Eisige Überraschung auf dem Meeresgrund

Eine deutsch-südkoreanische Polarexpedition korrigiert bisherige Vorstellungen über die Klimageschichte Sibiriens

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Klimageschichte Ostsibiriens muss neu geschrieben werden. Zu diesem Ergebnis kamen Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, nach Auswertung einer Expedition, die sie auf dem südkoreanischen Forschungsschiff »Araon« in Seegebiete nördlich der Wrangel-Insel führte.

Es ist noch keine fünfzig Jahre her, als allgemeiner Konsens herrschte, dass die gewaltige Eiskappe, die sich während der letzten Eiszeit (vor 18 000 bis 20 000 Jahren) von Norden her bis südlich von Berlin und Potsdam ausdehnte, selbstverständlich auch Sibirien bedeckt haben muss. Da kam es einem Paradigmenwechsel gleich, als vor allem russische und deutsche Polarforscher Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund zahlreicher Untersuchungen feststellen mussten: Die äußerte Grenze des kompakten Eisschildes verlief nordöstlich des Ural. Allenfalls während der maximalen Vereisung im mittleren Pleistozän erreichte sie des Zentralsibirische Hochland. Nun soll diese »Lehrmeinung« wieder korrigiert werden?

Warum befassen sich überhaupt Geologen und Geophysiker so intensiv mit dem Eis Sibiriens? Weil alles, was in diesen unermesslichen Weiten geschieht, das Klima der gesamten Nordhalbkugel der Erde nachhaltig beeinflusst. »Unser Wissen soll helfen, mögliche Veränderungen in der Arktis im Zuge des Klimawandels besser vorherzusagen«, erklärt Frank Niessen, der Fahrtleiter der Expedition, die vom südkoreanischen Polarforschungsinstitut KOPRI unternommen wurde.

Sicher ist, dass das Gebiet um den Kratersee Elgygytgyn im äußersten Osten, wo 2009 eine spektakuläre Tiefbohrung niedergebracht wurde (nd berichtete), in den letzten 2,5 Millionen Jahren nicht vergletschert gewesen ist. Gleiches gilt für das Lenadelta, das von Wissenschaftlern des AWI seit 1997 erkundet wird, und andere Landstriche. Aber welche Rolle der Arktische Ozean im Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten gespielt hat, wurde bislang wenig erforscht.

Die Expedition näherte sich dem kontinentalen Randbereich von der Ostsibirischen See und der Tschuktschensee her. Dabei entdeckten die Wissenschaftler auf einem Plateau und bis in 1200 Meter Wassertiefe markante, parallel verlaufende Furchen. Die Kratzspuren erstrecken sich über eine Fläche von 2500 Quadratkilometern. »Das kannten wir bisher nur aus der Antarktis und vor Grönland. Die Spuren entstehen, wenn große Eisschilde auf dem Meeresboden aufliegen und im Zuge der Fließbewegung wie ein Hobel mit Dutzenden Messern über den Grund schaben. Das Besondere an unserer neuen Bodenkarte ist, dass sie mit großer Genauigkeit gleich auf vier oder mehr Generationen von Eismassen schließen lässt, die sich in den zurückliegenden 800 000 Jahren von der Ostsibirischen See in nordöstlicher Richtung bis weit in den tiefen Arktischen Ozean bewegt haben«, sagt Frank Niessen.

Die nordsibirische Küstenregion, so nahm man bisher an, habe sich während dieser Eiszeiten zwar in eine riesige Kältewüste verwandelt. Doch sei die Region so trocken gewesen, dass nicht genug Schnee fiel, um über Jahre einen dicken Eispanzer heranwachsen zu lassen. Frank Niessen: »Unsere Arbeit zeigt jetzt, dass das Gegenteil der Fall war. Mit Ausnahme der letzten Eiszeit bildeten sich in den flachen Bereichen des Arktischen Ozeans mehrmals Eisschilde, die mindestens 1200 Meter dick wurden und sich vermutlich über eine Fläche so groß wie Skandinavien erstreckten. Wir irren uns nicht, die Anzeichen sind völlig eindeutig.«

Die Forscher gehen davon aus, dass diese Eisschilde während verschiedener Eiszeiten entstanden sind, als die globale Durchschnittstemperatur fünf bis acht Grad Celsius unter dem heutigen Wert lag. Dieser relativ geringe Temperaturunterschied hat anscheinend ausgereicht, um anfänglich dünnes Meereis zu einer riesigen Eiskappe anwachsen zu lassen. Ein Beispiel, das zeigt, wie empfindlich die Arktis auf Veränderungen im globalen Klimasystem reagiert.

Diese Erkenntnisse belegen einmal mehr, dass Sibirien weder geophysikalisch noch klimatologisch oder biologisch als eine einheitliche, quasi gleichförmige Landformation betrachtet werden darf. Die Inhomogenität spiegelt sich natürlich auch in der prähistorischen Klimageschichte wider. Sie wirft aber neue Fragen auf: Wie kann es sein, dass auf Land, wenn überhaupt, nur relativ kleine Eismassen nachgewiesen wurden, während vor dem sibirischen Schelf eine dicke Eiskappe lag, obwohl es gen Norden im allgemeinen immer trockener wird? Wurde aus der pazifischen Region Feuchte in die Arktis eingetragen? Wie weit der pleistozäne Eisschild nach Norden gereicht hat, können die Wissenschaftler noch nicht sagen. Künftige Erkundungen mittels Sedimentbohrungen sollen den zeitlichen Ablauf der Vereisung rekonstruieren helfen.

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