Nur eine Absichtserklärung?

Ein Gutachten erklärt die Einigung zum Oranienplatz für nicht rechtsgültig / Flüchtlinge setzten Protest fort

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 3 Min.
Laut Rechtsgutachten ist das Einigungspapier zum Oranienplatz von Mitte März nicht rechtsverbindlich. Flüchtlinge fühlen nun sich hinters Licht geführt.

Unterstützer der Flüchtlinge, die seit Tagen auf einem Hostel-Dach in Berlin-Friedrichshain ausharren, haben am Montag das Foyer der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration besetzt. Wie die Polizei mitteilte, hielten sich 40 Unterstützer in dem Gebäude auf. Das Bündnis »Zwangsräumung verhindern« wollte mit der Aktion nach eigenen Angaben auf die Situation der Flüchtlinge im Stadtteil Friedrichshain aufmerksam machen. Laut Sprecher Aljoscha Müller hängten die Aktivisten in der Eingangshalle Plakate auf und spielten Musik. In Friedrichshain halten zehn Flüchtlinge seit Tagen ein Hausdach besetzt - sie widersetzen sich damit der Forderung des Senats, ihre Unterkunft zu verlassen.

Die Protestaktion richtet sich damit auch gegen die Konsequenzen aus dem von Flüchtlingen und Integrationssenat unterzeichneten »Einigungspapier Oranienplatz«. Ein Papier, das laut Rechtsgutachten keinen Bestand hat. Das im Auftrag des Berliner Innensenators Frank Henkel (CDU) erstellte Gutachten des Forschungszentrums für Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz sorgt in diesen Tagen für Verunsicherung. Rechtsprofessor Kay Heilbronner bezweifelt darin die rechtliche Verbindlichkeit des »Einigungspapiers Oranienplatz«. In diesem werden den Flüchtlingen vom Oranienplatz umfassende Einzelfallprüfungen »im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten« zugesichert, wenn sie den Oranienplatz bzw. die Gerhart-Hauptmann-Schule räumen. So zumindest verkündete es der Berliner Senat auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 18. März dieses Jahres. In dem jetzt bekannt gewordenen Gutachten hingegen heißt es: »Für die öffentliche Verwaltung hat die Senatorin für Integration die Verhandlungen geführt, deren Gegenstand für die hier zu prüfenden ausländerrechtlichen Maßnahmen im Wesentlichen außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegen. Eine unmittelbare Einbeziehung der Berliner Innenverwaltung beziehungsweise des zuständigen Senators für Inneres und Sport und der für den Vollzug zuständigen Ausländerbehörde hat in keinem Stadium der Verhandlungen mit den Behörden stattgefunden.«

Bei dem Einigungspapier handele es sich daher nur um eine »politische Absichtserklärung«. Zwar hätten die Betroffenen einen gewissen »Vertrauensschutz«, dass bestimmte Handlungsspielräume ausgenutzt werden, aber beispielsweise darauf, alle Verfahren nach Berlin zu verlegen, keinen einklagbaren Rechtsanspruch.

Für Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) besteht jedoch kein Zweifel daran, dass das Einigungspapier verbindlich sei. Pressesprecher Mathias Gille sagte dem »nd«: »Jedes Wort im Einigungspapier wurde in Chefgesprächen zwischen Senatorin Kolat, Senator Henkel und damit dem Leiter der Ausländerbehörde abgestimmt. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Papier Rechtskraft entfaltet hat.« Auch der Sprecher des Berliner Flüchtlingsrats Georg Classen geht davon aus, dass das Einigungspapier Oranienplatz rechtlich wirksam sei. »Senatorin Dilek Kolat hat in den Verhandlungen immer gesagt, dass das Papier im Senat einvernehmlich beschlossen sei.« Welcher Senator dann letztendlich unterschreibe, sei da nicht entscheidend.

Inzwischen wächst bei den betroffenen Flüchtlingen der Unmut. Nora Brezger vom Flüchtlingsrat hat die Erfahrung gemacht, dass »das Vorgehen des Senats bei den Flüchtlingen Wut und Verzweiflung hervorruft. Nachdem sie ihren Teil der Vereinbarung erfüllt haben, nämlich den Abbau der Zelte auf dem Oranienplatz und den Auszug aus der besetzten Schule, bleibt der Senat die gegebenen Zusagen schuldig«. »Die Flüchtlinge fühlen sich betrogen. Vor allem diejenigen aus der Gürtelstraße, die sich sehr für die Einigung mit dem Senat eingesetzt haben. Sie erleben, dass es statt einer umfassenden Einzelfallprüfung nur ein pauschales Verfahren gebe«, sagte Anwältin Berenice Böhlo.

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