Eine fast vergessene Heldin

Die Polin Irena Sendler hat geholfen, über 2500 jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto zu retten

  • Christina Hebel, Warschau
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.

Sie rettete Mädchen und Jungen aus dem Warschauer Ghetto, wurde verraten und gab auch unter Folter nicht die Liste der geretteten Kinder preis. Die Polin Irena Sendler, 96 Jahre alt, blieb jahrzehntelang nahezu unbekannt, bis amerikanische Schülerinnen ihre Geschichte entdeckten. Nun erschien ein Buch über die mutige Polin auf Deutsch. Am 30. Juli wird Irena Sendler auf dem Weltkongress der Sozialarbeiter in München geehrt.

»Ich habe immer lieber geschenkt, als dass ich beschenkt wurde«, sagt Irena Sendler. Die 96-Jährige hat viele Leben geschenkt und hätte dabei ihr eigenes fast verloren. Während die Geschichte des Industriellen Oskar Schindler in den 90er Jahren durch Steven Spielbergs Film »Schindlers Liste« rund um den Globus bekannt wurde, blieb Sendler nahezu im Verborgenen. Nur wenige wussten, was sie geleistet hatte - bis vier Schülerinnen aus Kansas in den USA sich vornahmen, die Welt an die Polin zu erinnern.
Die Jugendlichen waren 1999 bei der Vorbereitung für eine Geschichtsarbeit auf die mutige Frau und ihre Rettungsaktionen gestoßen und hatten ein acht Minuten langes Theaterstück über sie verfasst, das sie in der Schule aufführten. Medien wurden aufmerksam, und schon bald wurde mehr bekannt über die beinahe vergessene Frau, die nie eine Heldin sein wollte. »Ich bitte euch herzlich, macht aus mir keine Heldin, denn das würde mich zu sehr aufregen«, schrieb Sendler den Schülerinnen in einem ihrer Briefe.

Gefälschte Papiere, chiffrierte Listen
Doch die Polin ist eine Heldin, vor allem für die 2500 jüdischen Kinder, die sie mit der Zegota, der Untergrundorganisation zur Hilfe für verfolgte Juden, aus dem Warschauer Ghetto schleuste und so vor dem Tod bewahrte. Und das obwohl auf Hilfe für Juden im von Deutschland besetzten Polen die Todesstrafe stand.
»Irena hat nicht nur uns gerettet, sondern auch unsere Kinder und Enkel und alle Generationen, die nach uns kommen«, sagt Elzbieta Ficowska, die im Alter von sechs Monaten im Juli 1942 in einer Holzkiste in einem Wagen aus dem Ghetto geschmuggelt wurde. Die Nationalsozialisten deportierten ihre Eltern vermutlich nach Treblinka, wo sie wie die meisten der mehr als 380 000 Warschauer Juden ermordet wurden.
Sendler - 1910 als Tochter eines katholischen Arztes in Warschau geboren - studierte polnische Literatur und Pädagogik. Die spätere Sozialarbeiterin erbte das christliche Engagement von ihrem Vater, wie sie in einem ihrer seltenen Interviews berichtete. »Er starb, als ich sieben Jahre alt war. Aber ich prägte mir für immer seine Worte ein, dass man Menschen in gute und schlechte einteilt. Nationalität, Rasse, Religion haben keine Bedeutung. Nur was für ein Mensch jemand ist. Der zweite Grundsatz, den man mir seit meiner Kindheit beibrachte, war die Pflicht, dem Ertrinkenden, der in Not geraten ist, die Hand hinzustrecken.«
Ihre Hilfe für die Juden war für sie deshalb »kein Heldentum, sondern nur ein Bedürfnis des Herzens«. Zudem betont sie, dass sie nicht allein war, es seien bis zu 25 Menschen an den Rettungsaktionen beteiligt gewesen. Irena Sendler besorgte Dienstausweise der Sanitätskolonne, zu deren Aufgabe es gehörte, ansteckende Krankheiten im Warschauer Ghetto zu bekämpfen. So konnte sie als eine der wenigen christlichen Polen in die Welt hinter Stacheldraht und Mauern gehen, in der Hunger, Krankheiten und Tod auf engstem Raum herrschten.
Unter dem Decknamen »Jolanta« knüpfte Sendler mit mindestens zehn anderen Frauen ein Untergrundnetzwerk im Ghetto. Sie nahmen Kontakt zu Familien auf. »Wir sagten, dass wir die Möglichkeit haben, Kinder zu retten und über die Mauer zu schmuggeln«, notierte Sendler nach dem Krieg in ihren Aufzeichnungen. »Aber auf die Frage, welche Garantien wir geben, konnten wir nur antworten, dass es keine Garantien gibt.«
Szenen wie aus Dantes »Inferno« hätten sich abgespielt, erinnert sie sich. Der Vater habe der Trennung vom Kind zugestimmt, die Mutter und Großmutter wollten »um nichts auf der Welt« ihr Kind aufgeben. Die Schreie und Tränen der sich trennenden Mütter und Kinder verfolgen Sendler in Albträumen noch heute.
Die Kinder wurden aus dem Ghetto geschmuggelt: Versteckt in Feuerwehrautos, Ambulanzen, Straßenbahnen, zu Fuß durch ein Gerichtsgebäude, das zwei Eingänge hatte - auf der Ghetto- und auf der »arischen« Seite -, durch Keller sowie Abwässerkanäle. Mit gefälschten Papieren, die die Sozialarbeiterin dank hilfreicher Kontakte beschaffen konnte, gab sie den Kindern eine andere Identität und besorgte ihnen ein neues Zuhause in Waisenhäusern, Klöstern und Pflegefamilien.
»Eigentlich habe ich drei Mütter: eine jüdische, die ich nie kennen gelernt habe, eine polnische, bei der ich groß geworden bin, und Irena, der ich mein Leben verdanke«, sagt Elzbieta Ficowska, das jüngste der geretteten Kinder. Sie ist heute Vorsitzende der Vereinigung »Kinder des Holocaust« in Polen, eines mittlerweile 800 Mitglieder zählenden Vereins, der Anfang der 90er Jahre gegründet wurde, damit die Überlebenden einander helfen können. Ficowska möchte die Erinnerung an Irena Sendler wach halten, die heute eine ihrer engsten Freundinnen ist. »Leider geht es Irena nicht gut, sie ist aus ihrem Rollstuhl gefallen.«
Dass die 96-Jährige im Rollstuhl sitzt, ist eine Folge der Folter durch die Gestapo, nachdem sie 1943 verraten worden war. Trotz größter Qualen und der Verurteilung zum Tode verriet sie nicht das Versteck, in dem sie die verschlüsselte Liste mit den Namen der geretteten Kinder versteckt hatte. Kurz vor der Exekution ließ ein durch die Zegota bestochener SS-Mann sie laufen. Später vergrub Sendler das Papier, in einer Flasche versteckt, unter einem Baum. Diese Liste konnte vielen Kindern nach dem Krieg ihre wahre Identität wiedergeben.
Irena Sendler lebt heute in einem kleinen Zimmer des Pflegeheims des Klosters der Barmherzigen Brüder in der Warschauer Neustadt, wo sie täglich von ihrer Familie und Freunden umsorgt wird. Kontakt mit anderen Menschen wünscht sie nur noch selten, mit Journalisten gar nicht mehr. Viele von denen hätten »verdreht, was man ihnen erzählt«.
»Das ist es«, sagt Anna Mieszkowska und weist auf ein Foto, das Sendler, eine kleine, etwas gekrümmte Frau, im Sessel in ihrem Zimmer zeigt. Die weißen Haare werden von einem schwarzen Haarreif zurückgehalten. »Hier habe ich Irena immer wieder besucht und mit ihr für das Buch gesprochen.« Die Journalistin und Theaterwissenschaftlerin Mieszkowska hat die Lebensgeschichte der mutigen Frau erstmals aufgeschrieben. Sie ist im März dieses Jahres auch auf Deutsch unter dem Titel »Die Mutter der Holocaust-Kinder« bei DVA erschienen. Das Buch, 2004 in Polen herausgegeben, kam zur richtigen Zeit. »Irena hat keine Kraft mehr, selbst immer wieder über die Geschehnisse zu sprechen«, sagt die Autorin. Deshalb musste Mieszkowska behutsam vorgehen. Ihre Arbeit hat sich gelohnt: Entstanden ist ein leises, bewegendes Buch, das in Polen, so die Autorin, nur auf wenig Resonanz gestoßen ist, aber dafür umso mehr in Deutschland. Eine große Freude für Sendler.

Späte Würdigung in der Heimat
In Polen würdigte man sie sehr spät: 2003 erhielt sie die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers für Tapferkeit und großen Mut. Bereits 1965 war sie von Yad Vashem in Israel mit dem Titel »Gerechte unter den Völkern« geehrt worden - zu einer Zeit, in der Sendlers Leistung in Polen kaum anerkannt wurde.
Die Polin versuchte, ein normales Familienleben zu führen, aber sie galt in ihrem Land als »Judenhelferin« und bekam den Antisemitismus der neuen Mächtigen zu spüren. Als sie schwanger war, wurde sie verhört und erlitt eine Fehlgeburt. Deshalb war das Engagement der Schülerinnen aus den USA nach den Worten Sendlers eine Wiederentdeckung »nach Jahren der Schikanen, Erniedrigungen und Verfolgungen«. Und für die Polin ein Geschenk - wie auch die Ehrenmitgliedschaft, die sie an diesem Wochenende auf dem Weltkongress der Sozialarbeiter in München für ihren Mut und ihren Einsatz erhält. Selbst nach München fahren kann Irena Sendler nicht - ihre Freundin Elzbieta Ficowska wird die Ehrung entgegennehme...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.