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»mache ich einen satz«

Poesiealbum Ingolf Brökel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Vielleicht ist ja Heimatliebe im Grunde nichts ist als Angst vor Veränderung. Vielleicht sind die wichtigsten Verteidigungsreden jene, in der die Narrheit gepriesen wird gegen jedes vernünftige Argument. Vielleicht bleibt der ersehnenswerteste Ort der Raum zwischen den Gegensätzen. Fast von jedem Gedicht Ingolf Bröckels lässt sich sagen, was es unaufgelöst mit sich herumträgt: Verse, vom Rätsel ein Stück. Es dunkelt da nichts vordergründig ein, aber die Rücksicht aufs Unantastbare, die Vorsicht beim Aufdecken hängt bei diesem Niederlausitzer mit einer so leisen wie zugleich sicher gelebten Distanz zusammen. Es ist, als wirke und webe er an einem ganz besonderen Spiel-Raum - an eben jenem Raum, der ihm immer da sein muss: nicht für die Erfüllung einer bestimmten, ausgewählten Sehnsucht, sondern für die schöne Bewegung mehrerer Sehnsüchte aufeinander zu. Die unerfüllt am schmerzvollsten - und am treuesten sind. »wir sind wie sand am meer./ wir sind wie salz im meer/ meer können wir nicht sein.«

Brökel, 1950 geboren, Physiker, einst Autor für »ndl« und »Temperamente«, gefördert von Gerhard Wolf, befreundet mit Günter Kunert - er lässt sich nicht von Wirklichkeit betäuben, aber er sieht das Wirkliche genau. Er ist Poet im Sinne einer einfachen, aushebelnden Wahrheit: Wer im Schatten der Bäume schreibt, wird in den Schatten gestellt von den Bäumen selber. Nicht, was ich nicht weiß, soll mich reuen, sondern der nachlässige Gebrauch meiner Augen. Die hören können, was sie sehen. So, wie die Ohren sehen können, was sie hören. »ich höre die erde ab:/ wenn sie bebt/ mache ich einen satz.« Der Dichter ein Verwandter vom »häschen in der grube«.

Dieser Autor schafft Variationen der Entfernung, er übt sich in Ironie (Brecht, Kunert!), er schreibt gegen falsche Nähe. Er ist wie ein Maler, und was ist Malen? Etwas Vages mit den Augen so lange einkreisen, bis aus diesem mehrfach wiederholten Etwas, das vielleicht gar nicht da ist, just das hervortritt, was immer schon da war. Hervortritt mit der Deutlichkeit einer gedanklichen Lektion. Die auch von Sarkasmen umsäumt ist, etwa beim Aufstieg zum Eiffelturm: »stolpern sie bitte nicht/ monsieur/ das sind die stufen/ zum adieu«. An Brökel perlt jene Selbstübertreibungstechnik ab, die das Individuum zu einer so glänzenden, so elenden europäischen Sackgasse gemacht hat. Der Dichter schreibt schmucklos, in seinem Werk lebt er schmucklos, und er existiert als pure deutsche Tradition: Außen ändert sich wenig bis nichts, bis alles Nichts wird - aber innen wird alles immer reicher und lebendiger, also fadenscheinig idealistisch. Oder eben auch nicht: »revolution - na klar/ du erinnerst dich doch/ diese fete damals, /richtig, mit flachmännern/ und bauchigen flaschen/... als wir aufwachten/ ging es uns schlecht«.

Poesiealbum 313: Ingolf Brökel. Auswahl: Dorothea von Törne, Grafik: Jürgen Durner. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 32 S., 4 Euro.

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