Gehn oder stehn?

»Warten auf Godot« am Deutschen Theater Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Inmitten des dunklen, schräg ansteigenden Bühnenbodens: ein Trichter, Schlund einer unbekannten Unterwelt, die alles unterschiedslos in sich hineinsaugt. Aber ihr schmeckt offenbar nicht, was sie da verschluckt hat, sie spuckt es wieder aus.

Kaum ist man weg, ist man also schon wieder da, so, als wäre man nie fort gewesen. Aufbrüche, auch Ausbrüche sehen anders aus! In diese unbewohnbare Welt aus rasendem Stillstand sehen sich Wladimir und Estragon geworfen: »Ich dachte, du wärst weg für immer.« - »Ich auch.« Hier täuschen sich alle fortgesetzt über den Realitätsgrad ihrer Entschlüsse.

Die Bühne von Mark Lammert bringt den ganzen Beckett in ein Bild, das etwas Bezwingendes hat: eine Variation auf Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen, jedoch ohne das von ihm geforderte »amor fati«, die Pflicht, das ungerechte Schicksal auch noch zu lieben. Nein, das vermögen die beiden Paare, die wie letzte Menschen in wüster Gegend wirken, bei Beckett nicht. Sie beherrscht vielmehr jene Gleichgültigkeit, die die am schwersten zu ertragende Form der Gleichmacherei ist: Nihilismus, der verlorene Glaube, dass irgendeine Aktion, Handlung welcher Art auch immer, noch einen Sinn haben könnte.

Beckett spielt das christliche Erlösungsthema durch, jedoch ohne Zukunft, ohne Vergangenheit. Wovon und wofür soll man dann noch erlöst werden, und vor allem von wem? Wir selber tun es! Aber so einbetoniert im Hier und Jetzt, in dem jede Veränderung nur eine scheinbare ist, wird schon die kleinste Widersätzlichkeit gegen das Es-ist-so-wie-es-ist zur Überforderung. Die Rede von der Erlösung erweist sich bloße Rhetorik. Den Himmel also gibt es nicht, aber die Hölle ist real, das ist die bittere Pointe in »Warten auf Godot«.

Vor sechzig Jahren hatte dieses Stück über die absolute Sinnlosigkeit von Existenz eine subversive Wirkung, heute steht es unter Verdacht, ein popkultureller Gemeinplatz zu sein. Die unterhaltsame Variante von »Warten auf Godot« lieferte bereits der ebenso berühmt gewordene Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Doch auch den traf das Schicksal, an dem Beckett nun schon so lange trägt: ein Klassiker geworden zu sein.

»Warten auf Godot« am Deutschen Theater zu inszenieren, war ein Plan von Dimiter Gotscheff gewesen, der vor einem Jahr starb. Statt seiner inszeniert das Stück nun Iwan Panteleev und versucht im Klassiker der Moderne den dramatischen Störfall zu erwecken. Nein, das hier soll kein Werk, es soll ein Anti-Werk sein, das alle Ausrufe- und Fragezeichen durchstreicht und stattdessen lauter Leerzeichen setzt. Vielleicht handelt es sich auch eher um ein dialogisches Gedicht über die Abwesenheit Gottes in der Welt. Er ist fort, das scheint offensichtlich, doch wo ist er hin, so fragen wir uns nun, so metaphysisch obdachlos geworden.

Eine einzige Lampe, eine sehr hohe Straßenlaterne, wenn auch ohne Straße, beleuchtet die immer gleiche Szenerie. Mal leuchtet sie stärker, blendet die Zuschauer, mal droht sie ganz zu verlöschen. Ein Baum ist auch da, oder eher die ferne Erinnerung, um nicht zu sagen: die Karikatur eines Baumes. Und in dieser Szenerie treiben Wladimir und Estragon wie in einer Zeitblase der Vergeblichkeit. »So ist die Zeit vergangen.« - »Sie wäre sowieso vergangen.« - »Ja, aber langsamer.« Was erst noch zu beweisen wäre.

Samuel Finzi und Wolfgang Koch proben die Kontaktaufnahme mittels Worten, die nicht mehr viel sagen, nur eben so viel, dass sie das, worum es eigentlich geht, nicht mehr zu erreichen vermögen. Sie transportieren nichts mehr. Und am Grunde des Trichters, den Lammert baute, lauert das große Nichts, das vielleicht doch nur eine Maske des Seins ist. Aber wer glaubt das schon länger als einen Verzweiflungsaugenblick lang? Gottfried Benn hat dieses Beckett-Gefühl vorweggenommen, als er schrieb, man sage nicht, der Verstand könne es erreichen, er gäbe nur manchmal »kurzbelichtet Zeichen«.

Um diese kurzen Belichtungen der Möglichkeiten unserer Existenz, die zu kurz dauern, um wirklich klar zu sehen, geht es. Stehn oder Gehn? Und was ist der Unterschied, ein realer oder ein eingebildeter? Beckett, das ist klar, führt uns mit jedem Wort, mehr noch mit jedem unausgesprochenen Wort in die Zone der Vergeblichkeit. Wir selbst können uns nicht erlösen, aber außer uns ist hier niemand.

»Wenn wir es bereuen würden?« - »Was?« - »Nun ja ... Wir brauchen ja nicht ins Detail zu gehen.« Der Diskurs kreist, was fehlt, um ihn aufzusprengen, ist eine neue Art von Energie, die sie, längst müde geredet, nicht mehr aufbringen werden. Das wäre eine Verbindung von Ursprung und jenem Detail, das wehtut, weil es nicht schön klingt, sondern unsere elementare Hilflosigkeit bloßstellt.

Doch vielleicht kann man die Befreiung aus dem Käfig der Entfremdung auch stellvertretend an anderen durchexerzieren? Das apathische Endzeitpaar Wladimir und Estragon trifft zwecks dieses Experiments auf Pozzo und Lucky (Christian Grashof und Andreas Döhler). Sie führen einen überaus gestrigen Schaukampf auf, der nach Folklore riecht. Klassenkampf und Recht und Freiheit, alles bloß noch Zitate einer versunkenen Zeit, bedenklich heiße Luft, wie sogar Heiner Müller, den sonst wenig aus der selbstgewissen Fassung bringen konnte, feststellte, als er Beckett den »Pillenknick in der Dramatik« nannte. Das Herr-und-Knecht-Thema, das noch bei Brecht für »acht bis zwölf Stücke« gereicht hätte, werde hier in einer einzigen Szene abgehandelt, das sei das »beängstigende Problem mit Beckett«.

Nein, so richtig zum Fürchten ist es nicht, auch kein absolutes Anti-Theater im Sinne von Antonin Artauds Theater als »Gegenpest zu herrschenden Pest«. Was wir hier sehen, ist kluges und nuanciert ausgelotetes Wandern im Unterholz jener ewigen Vorstadt, in der die Metaphysik ein provisorisches Bleiberecht gefunden zu haben glaubt.

Vor allem ist es ein Fest der Schauspieler Samuel Finzi und Wolfram Koch. Es sind zwei traurige Clowns, die den Untergang des Abendlandes durchspielen - nachdem er sich längst vollzogen hat. Man wartet, ohne noch etwas zu erwarten. Alle Schlachten liegen längst hinter uns. Ist es da vielleicht sogar gut, weil friedlich, wenn vor uns nichts mehr liegt?

Selten erlebt man es noch am gegenwärtigen Deutschen Theater, diesem Haus, das so starke Individualisten hervorbrachte, dass - wie Heiner Müller einmal über Ulrich Mühe sagte - bei diesen Schauspielern Kopf und Bauch sich gegenseitig nicht behindern. In »Warten auf Godot« hat man teil an einem hochpräzisen Spiel von Worten und Gesten, deren Verwandlungskraft nicht ausreicht, die Figuren auf der Bühne aus ihrem ewigen kreisenden Einerlei herauszureißen - wohl aber, um die Zuschauer in ihrer bloßen selbstgewissen Betrachter-Rolle aufzustören. Tat twam asi - das bis auch du!

Nächste Vorstellung: 26.10.

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