Das Gesicht des Engels

Ernst Barlach und Käthe Kollwitz im Zwiegespräch - eine Ausstellung in Berlin

Immer wieder hat das Antlitz des »Schwebenden« im Dom zu Güstrow Rätsel aufgegeben. »In dem Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne dass ich es mir vorgenommen hatte. Hätte ich so was gewollt, wäre es wahrscheinlich missglückt?«, äußerte sich sein Schöpfer Ernst Barlach 1928. Also eine unbewusste Dedikation an die Schöpferin der klagenden, schützenden, trauernden Frauen? Doch kann das Gesicht des Engels wohl nicht als ein Porträt bezeichnet werden, denn die scharfkantigen, symmetrischen Linien stilisieren es allzu sehr. ?Andererseits hat Käthe Kollwitz in ihrem kleinformatigen Bronzerelief »Die Klage« (1938), dem Gedenken des im gleichen Jahr verstorbenen und wie sie von den Nazis verfemten Barlach gewidmet, sich selbst als Trauernde dargestellt. Auch dieses Relief galt nicht allein der Trauer um Barlach, sondern überhaupt dem Unrecht, das in der NS-Zeit den Menschen zugefügt wurde. Das Motiv der verklammerten Hände und der harte, die Schnittflächen oben und unten begrenzende Ausschnitt geben der Komposition ähnliche Festigkeit und innere Monumentalität wie Barlachs Güstrower Denkzeichen. ?Was verbindet beide Künstler der Moderne miteinander, was trennt sie? Die Frage ist oft gestellt worden, vor allem hat der Barlach-Experte Elmar Jansen sich vor Jahren gründlich mit diesem Thema beschäftigt. Jetzt leuchtet eine Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin besondere Facetten der Gemeinsamkeiten zwischen Barlach und Kollwitz aus, spürt mystischen Motiven und christlichen Vorbildern nach, bestimmt ihre Grundeinstellung zur »Conditio humana«, zu Liebe Leid und Tod, vergleicht ihr Weltkriegsgedenken oder ihre satirischen und politischen Arbeiten. Im Katalog werden auch aufschlussreiche Exkurse über ihre Beziehung zu Goethe, die »sprechenden Hände« in ihren Oeuvres oder ihr Frauenbild angestellt. Beide Künstler setzten die Wahrheit von Tod und Leben der im Irdischen gefangenen und durch bürgerliche Enge, durch Lieb- und Verantwortungslosigkeit gekennzeichneten Masse Mensch gegenüber. Kollwitz hat sich in ihren Tagebüchern immer wieder bewundernd über ihren fast 3 Jahre jüngeren Künstlerkollegen ausgesprochen. Der einsiedlerisch lebende Barlach dagegen verhielt sich der Kollwitz gegenüber ziemlich zurückhaltend. Als sie allerdings 1934 zusammen mit Heinrich Mann aus der Akademie der Künste ausgeschlossen wurde, erklärte er sich spontan mit ihr solidarisch. Käthe Kollwitz wiederum zeichnete ihn vier Jahre später auf dem Totenbett. Nicht von einer Künstlerfreundschaft im eigentlichen Sinne des Wortes spricht deshalb die Kuratorin der Ausstellung, Annette Seeler, sondern von einer »verborgenen Nähe.« Doch gegenseitige Sympathie und Respekt voreinander waren auf jeden Fall vorhanden. 1921/22 schuf die Kollwitz den Zyklus »Krieg« in der für sie neu entdeckten Technik des Holzschnittes. Der Krieg tritt hier selbst nicht in Erscheinung, die ganze Aufmerksamkeit der Künstlerin galt den wehrlosen Opfern. Ein Vergleich von Barlachs Holzschnitt »Barmherziger Samariter« von 1919 mit der späteren Zeichnung »Der Tod nimmt eine Frau zu sich« von Kollwitz, die sie 1924 in der Mappe »Abschied und Tod« veröffentlichte, zeigt, dass sich der anregende Einfluss Barlachs nicht allein auf die Anwendung der neuen Technik, sondern auch auf die Entwicklung von Bildgedanken erstreckte. Bei den Holzschnitten der Kollwitz wird eine Szene gleichsam feierlich aus dem Alltäglichen herausgehoben durch die reine, vom Naturvorbild abstrahierende Darstellung in Schwarz und Weiß, wie es das »Gedenkblatt für Karl Liebknecht« (1920) sinnfällig vor Augen führt. Im Zentrum ihrer beider Werke steht der Mensch mit seiner Körpersprache, mit Mimik und Gebärden, mit all den Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm zur stummen und doch beredten Verständigung eigen sind. Das Zusammenspiel von heftig gesteigerter äußerer Bewegtheit und starker, innerer psychischer Regung ist Ausdruck einer Erschütterung, die den Menschen mit der Kraft einer Offenbarung im Innersten trifft. So wenn er plötzlich eine neue Bedeutung, ein neues Gesicht der Dinge wahrnimmt, einen aufblitzenden Spalt, ein Zeichen, das ihm bisher verborgen geblieben war. Das »ständige Gespräch mit dem Tod«, so teilte ihre Schwester Lise mit, war das Leitmotiv für Käthe Kollwitz. 18 Jahre lang, mit Unterbrechungen, arbeitete sie an einem Denkmal für ihren 1914 gefallenen Sohn Peter, zwei Figuren von Vater und Mutter, die 1932 auf dem Gefallenen-Friedhof im belgischen Roggevelde (seit 1955 in Vladsloo-Praedbosch) als Totenmal für die Opfer des 1. Weltkrieges aufgestellt wurden. Auch die Denk- und Glaubenszeichen Barlachs gestalten nicht - wie sonst üblich - religiöse Motive als Verweisfunktion politischer Ziele, sondern begründen eine Sonderstellung, die vor allem auf die prinzipielle Zeichenhaftigkeit und den expressiven Charakter seiner Werke verweist. Für beide Künstlergefährten spielen die »Dinge hinter der Wirklichkeit« eine besondere Rolle. Er handele unter einem inneren Zwang, bekannte Barlach, wenn er hinter der Augenfälligkeit der äußeren Erscheinungen immer wieder das Verborgene, hinter der Maske das wahre Gesicht suche. Barlach wie Kollwitz haben Vorbilder aus der christlichen Darstellungstradition umformuliert und ihren eigenen Bildgedanken anverwandelt. Bei Kollwitz sind das die Variationen zum Bildtypus der Muttergottes in guter Hoffnung oder ihr wiederholtes Aufgreifen der Grablegungs- bzw. Beweinungs-Szene. Barlach dagegen kommt immer wieder auf das Motiv des Schwebens zurück - vom Holzrelief »Die Vision« (1912) bis zum »Güstrower Ehrenmal« von 1927 - oder variiert die Konstellation der »Heimsuchung«. Bei beiden Künstlern ergibt sich die Gebärde der an das Gesicht oder den Kopf gelegten Hand in allen Ausdrucksfärbungen, vom Nachdenken über Kummer und Leid bis zur tiefsten Verzweiflung. Auch sinnhaltige Kompositionsmuster sind bei ihnen zu entdecken, etwa die Kreuzform, wobei in christlicher Lesart der horizontale Kreuzbalken das irdische Leben und der Tod symbolisiert, während die Vertikale für das ewige Leben steht, oder die Schneckenform als Sinnbild einer sich selbst Schutz suchenden Nacktheit oder eines Rückzugs ins tiefe Innere. Am radikalsten formten beide Künstler das Muster der »Pietà« um. Während Barlach für das geplante Ehrenmal in Stralsund die Gruppe der Mutter mit dem toten Soldatensohn streng in der symbolischen Kreuzform anordnete und so der Mutter, dargestellt als vertikaler Kreuzesbalken, das ewige Leben zuweist (»Pietà«, 1932, Bronze), scheint die nackte Mutterfigur der Kollwitz (»Frau mit totem Kind«, 1903, Radierung) förmlich ihren toten Sprössling verschlingen und wieder einverleiben zu wollen. Zugleich wird der wie aus sich selbst leuchtende Kopf des Kindes so aus der Körpermitte der dunkel-massigen Mutter nach vorn gedrängt, als solle er, wie bei der Geburt, wieder das Licht der Welt erblicken. Offensichtlich ist hier das Motiv der »Wiedergeburt««und der »Mutter Erde« zu einer Darstellung des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen zusammengeflossen. ?Wenn beide auch die Grundbedingungen und Möglichkeiten des Menschseins, das Moment des existenziellen Ausgesetztseins gestaltet haben, so war doch Leid und Not für Kollwitz ein gesellschaftlich bedingtes Problem, das sie etwa durch aufrüttelnde Appelle an die Mitmenschlichkeit zu verändern suchte, während Barlach im menschlichen Leid einen unentrinnbaren Zustand sah, der aus dem zerfallenen Sein des Menschen zwischen Himmel und Erde erwächst. »So sind wir Menschen, alle Bettler und problematische Gestalten im Grunde«, schrieb er 1920. Die Bettler, Verlassenen, Verzweifelten, Erschreckenden, die Zweifler, Schweigenden und Verharrenden, die Visionäre, die Sehenden und die in einem Höheren Aufgehenden bestimmen Barlachs Werk. So gehen in ihren Grundauffassungen die beiden Künstler auseinander. Den »Schwangeren« der Kollwitz liegt zwar ein Geheimnis zugrunde, in dem sich das unaussprechlich »Letzte« offenbaren soll. Doch das geistige Begreifen geht bei der Kollwitz einher mit der nachempfindenden Identifikation mit dem Gegenüber, bei der das Verstehen sich gleichsam durch das Spüren am eigenen Leib vollzieht. In der Radierung »Schlachtfeld« (1907) scheint die über ihren toten Sohn gebeugte Mutter zu einer leblosen Statue erstarrt zu sein, und auch in der Radierung »Aus vielen Wunden blutest Du, o Volk« (als Schlussblatt des Zyklus »Ein Weberaufstand« gedacht, aber nicht in die Folge aufgenommen) legt die auf ein Schwert gestützte Figur die Finger in die Wunde des Toten - wie der ungläubige Thomas die Leibhaftigkeit des auferstandenen Christus erst dann erfasst, nachdem er dessen Seitenwunde berührt hat. Dagegen schaut die Thomas-Gestalt in Barlachs Plastik »Das Wiedersehen (Christus und Thomas)« von 1926 zweifelnd, fragend, forschend zu der Christusfigur auf, ohne von ihr eine Antwort zu erhalten. Im beiderseitigen Nichtverstehen halten sich beide Figuren fest. Für Barlach existierte keine der Erfahrung innewohnende »Idee«; das, was seine Gestaltung bedeuten sollte, konnte nur zeichenhaft angedeutet werden. Es ist dies eine Ausstellung, in der der Betrachter seine eigenen Entdeckungen machen kann. Selbst dem mit dem Werk Barlachs und Kollwitz Vertrauten eröffnen sich überraschende Bezugsfelder und Querverbindungen, weniger im Stilistischen als vielmehr in der Thematik und Motivik, im Ausdruckswillen und in der geistigen Grundhaltung dieser beiden Künstler.

Ernst Barlach und Käthe Kollwitz im Zwiegespräch. Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, Fasanenstr. 24, täglich, außer Dienstag, von 11-18 Uhr, bis 31. August.
Der gleichnamige Bildband, dem auch die hier veröffentlichten Abbildungen entnommen sind, erschien, herausgegeben von Martin Fritsch, im E....

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