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»Wir verlieren unsere Tradition«

Kent Nagano macht das »weltweite Pisa-Diktat in der Bildungspolitik« für den Niedergang der klassischen Musik verantwortlich

  • Lesedauer: 4 Min.
Kent Nagano, 1951 als Enkel von Einwanderern aus Japan in Kalifornien geboren, gehört zu den profiliertesten Dirigenten der Welt. Überall füllt er die Konzertsäle – und sieht er das Interesse an klassischer Musik schwinden.

Sie schreiben, dass klassische Musik an Bedeutung verliert. Was macht Sie so pessimistisch?
Pessimistisch ist nicht ganz das richtige Wort. Vielmehr bin ich tief besorgt. Im Alltag und vor allem bei jungen Menschen hat die klassische Musik kaum noch Bedeutung. Die Selbstverständlichkeit ihrer Präsenz ist verloren gegangen. Diese großartige Kunst droht zu einer Liebhaberei einiger Schichten zu werden. Aber dafür ist sie nicht gedacht.

Vielleicht wächst ja die nächste Generation von Klassikliebhabern gerade heran.
Noch viel bedrückender ist für mich, dass die klassische Musik in der Schule immer weiter zurückgedrängt wird. Alle anderen Fächer scheinen mehr Bedeutung zu haben. Diese Entwicklung hat in den Vereinigten Staaten ihren Anfang genommen. Inzwischen gilt dies gleichermaßen diesseits und jenseits des Atlantiks. Wenn vor allem junge Menschen weder durch ihr Elternhaus noch in der Schule die Möglichkeit bekommen, Zugang zur klassischen Musik zu finden, dann werden sie diese auch nicht vermissen. Sie wissen gar nicht, dass es sie gibt. Ist es fair, wenn wir ihnen diese Möglichkeit großartiger, vielleicht sogar existenzieller Erfahrungen vorenthalten?

Kent Nagano

Kent Nagano, 1951 als Enkel von Einwanderern aus Japan in Kalifornien geboren, gehört zu den profiliertesten Dirigenten der Welt. Überall füllt er die Konzertsäle – und dennoch sieht er das Interesse an klassischer Musik schwinden. In seinem neuen Buch »Erwarten Sie Wunder!« (Berlin-Verlag, 320 S., 22,90 €) beschreibt er das Problem.
 

Wenn die Jugend Beethoven und Mahler nicht mehr hören will, ist das dann nicht einfach der Lauf der Dinge? Muss sich nicht auch die Klassik einem Wettbewerb unterwerfen?
Kulturelle Gewohnheiten und Vorlieben verändern sich. Natürlich. Doch die Bedrohung der klassischen Musik ist das Ergebnis eines gravierenden Wertewandels. Wir leben im Zeitalter ökonomischer Obsession. Alles unterliegt dem Kosten-Nutzen-Kalkül, dem Abwägen von Einsatz und Ertrag, dem erwarteten Return, ohne den ein Investment nicht lohnt. Aber die Rendite eines Konzertbesuchs lässt sich genauso wenig berechnen, wie wenn Kinder ein Instrument lernen - auch wenn wir alle wissen, wie wichtig die Künste für die Menschen sind.

War das nicht immer so, dass Kunst sich auch einem Markt unterwerfen muss? Auch die Künstler müssen bezahlt werden.
Ich will ein Beispiel für den Wertewandel bringen, das die jungen Menschen so stark betrifft. Das ist das nahezu weltweite Pisa-Diktat in der Bildungspolitik. Ein Bildungssystem gilt dann als vorbildlich, wenn das Land bei Pisa gut abschneidet. Aber weder Sprachen noch die Künste spielen hier eine Rolle: Philosophie, Literatur, Malerei, die klassische Musik - nach Pisa für ein leistungsstarkes Bildungssystem alles unbedeutend. Was für ein bornierter Bildungsbegriff liegt dem zugrunde? In den Schulen drängt dieses neue Bildungsverständnis die Künste und mit ihnen die klassische Musik dramatisch zurück. Das macht mir große Sorgen.

Was können wir verlieren, wenn wir uns mehr auf die Naturwissenschaften konzentrieren? Sie sind es, die unsere Wirtschaft antreiben.
Wir verlieren dadurch unglaublich viel: Inspiration, Trost, Gemeinsinn, einen Teil unserer großen abendländischen Tradition. Wir verlieren die Möglichkeit, Dinge zu entdecken und zu erfahren, die größer sind als wir selbst. Das ist der Sinn ästhetischer Erfahrungen, ohne die wir alle in unserer Vorstellungskraft sehr viel ärmer würden. Wissen Sie, wie wichtig ein gutes, ja trainiertes Vorstellungsvermögen für die Lösung wirklich schwieriger Fragen ist?

Wer trägt die Verantwortung?
Verantwortlich dafür, dass klassische Musik nicht weiter verdrängt wird, sind wir alle - jeder an seiner Stelle. Als Dirigent darf und will ich mich nicht darauf verlassen, dass meine Konzerte ausverkauft sind. Wenn ich Menschen für Musik begeistern will, weil ich felsenfest davon überzeugt bin, dass sie ihr Leben verändern kann, dann muss ich die Musik zu ihnen bringen: in ungewöhnlichen Konzerten an zum Teil ungewöhnlichen Orten mit ungewöhnlichen, immer neuen Ideen, die ihnen zeigen, dass diese große Musik nicht nur noch immer aktuell ist, sondern heute vielleicht bedeutender als je zuvor.

Also liegt es an den Künstlern selbst?
Wir Künstler brauchen auch die Unterstützung politischer Entscheidungsträger, weil ernste Kunst, für die man sich anstrengen muss, eine Gesellschaft immer etwas kostet. Sie ist, in rein monetärer Hinsicht, nicht unmittelbar gewinnbringend. Wenn Politiker nur motiviert und kreativ genug wären, um unser Musikerziehungssystem ein Stück weit wiederzubeleben und die klassische Musik in ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen wieder etwas nach vorne zu rücken, wäre unglaublich viel gewonnen.

Interview: Chris Melzer, dpa

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