Nicht alle Wünsche wurden wahr

Die Sorben und die Friedliche Revolution von 1989

  • Benedikt Dyrlich
  • Lesedauer: 6 Min.

Auch unter den Sorben erwachten im Herbst 1989 Courage und ziviler Ungehorsam. Nun trauten sich neben Studenten, Schriftstellern und Künstlern, die schon vor der »Wende« Glasnost in den Medien und auf Versammlungen eingefordert hatten, auch Lehrer, Pfarrer, Genossenschaftsbauer, Handwerker, Journalisten, Ingenieure, Ärzte und einige Funktionäre der Domowina, der nationalen Organisation der Sorben, aus der Deckung. Stimmen der Kritik wurden Anfang Oktober im sorbischen Hörfunk in Bautzen und Cottbus, insbesondere aber in der Tageszeitung »Nowa doba« lauter und deutlicher; unter anderem wurde die Devastierung sorbischer Dörfer durch den Braunkohletagebau öffentlich angeklagt.

Jurij Koch hatte bereits Anfang der 1970er Jahre auf den Bühnen des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters auf die Folgen der rabiaten Zerstörung sorbischer Siedlungs- und Sprachräume aufmerksam gemacht. Ende November 1987 kritisierte der Schriftsteller aus Cottbus, Mitglied der SED, dann auch im Plenum des X. Schriftstellerkongresses der DDR in Berlin den »Raubbau« an Mensch, Natur und Sorbentum in einer Schärfe, wie sie bis dahin aus der »sorbischen Provinz« in der Hauptstadt des Arbeiter- und Bauernstaates nicht zu hören gewesen war. Ich meldete mich ebenfalls zu Wort: »Rekultivierung der Mutter Erde sieht die Wiederbelebung ihrer Schwester, der Mutter Sprache, bisher nicht vor. Warum eigentlich nicht? Wer oder was hindert uns, wieder kleine Häuser, Kirchen und Schulen zu bauen, um Vielfalt der Sprachen und Literaturen zu bewahren, sie zu entfalten? Unser Bild von der Welt? Das Bild unserer Welt?«

Das Verschwinden der sorbischen Sprache wie auch die Ablehnung und Einebnung der christlichen Traditionen durch die SED im öffentlichen Leben der Lausitz waren immer wieder Gegenstand von zum Teil heftigen Auseinandersetzungen - seit der Gründung der DDR, die von vielen sorbischen Intellektuellen als »mein Vaterland« (Jurij Brězan) verstanden wurde, da sie Antifaschismus, Demokratie und Gleichberechtigung versprach. Den »Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität« war das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur in der Verfassung von 1968 garantiert worden (Art. 40). Der Verwirklichung dieser Rechte sollten sorbische Schulen und Einrichtungen wie der volkseigene Verlag der Domowina, ein zweisprachiges Berufstheater, sorbische Museen in Bautzen und Cottbus sowie sorabistische Institute in Bautzen und Leipzig dienen, die in den 1950er Jahren gegründet und großzügig von Staat und Regierung unterstützt wurden.

In der rauen Wirklichkeit gingen allerdings die Ideale auch im Sorbenland zunehmend unter. Die SED übernahm die »Schalthebel« der sorbischen Kultur, der Medien, der Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen. Wer nicht Genosse oder zumindest loyaler Mitläufer und Propagator der führenden Partei war, durfte keine sorbische Institution leiten, was nicht heißt, dass es unter den sorbischen Mitgliedern der Partei nicht etliche kritische Köpfe und (heimliche) Anhänger von Dubček und Havel, der Solidarnosć, von Gorbatschow und sogar vom polnischen Papst Johannes Paul II. gab.

Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sowie die Vereinnahmung des Handwerks waren die Kehrseite einer zunehmenden Ideologisierung aller Bereiche des sorbischen Lebens ab den 1960er Jahren. Weshalb vielen, vor allem katholischen Sorben die DDR letztlich nicht ans Herz wuchs. Sie hielten sich eher an die alten Sitten und Bräuche, genossen ihre Feste, pflegten die Folklore. So auch meine Eltern. Deshalb gehörte ich nicht den Jungen Pionieren an und nahm nicht an der Jugendweihe teil. Auch die Mitgliedschaft in einer alles und alle beherrschenden Partei war weder für mich noch für meine Geschwister ein Thema, aber ebenso wenig eine Mitgliedschaft in der CDU. 1986 versuchte ein Vertreter dieser Blockpartei mich in Bautzen, als ich Dramaturg am Deutsch-Sorbischen Volkstheater war, zum Beitritt zu überreden. Ich lehnte mit der Begründung ab: »Solche kollektiven politischen Unterwerfungen sind nicht mehr zeitgemäß.«

Das Verbot einer sorbischen studentischen »Untergrundzeitung« 1988 und wiederholte Ausgrenzungen parteiloser oder parteilich-kritischer Sorben durch die Domowina führten letztlich zur Mobilisierung und Gründung von Bündnissen, die einen Ausweg aus einer veralteten und diktatorischen »Nationalitätenpolitik« suchten. Auch unter sorbischen SED-Mitgliedern kam es zu aufmüpfigen Verkettungen. Es wurde eine »Sorbische Linke« ins Leben gerufen, die sich von der Gängelung und Zensur der SED-Zentralen in Berlin, Dresden und Cottbus sukzessive abwandte. Schönfärberei und Vertuschung der wirklichen Probleme in der DDR wurden Ende der 1980er Jahre von diversen Initiativen auf Versammlungen und Kundgebungen in und außerhalb der Domowina angesprochen und angeklagt. In fast allen katholischen und etlichen evangelischen Kirchenkreisen brach eine über Jahrzehnte unterdrückte Empörung gegen die Diktatur der atheistischen Ideologie aus.

Ab Anfang Oktober 1989 trafen sich sorbische Bürgerrechtler mehrmals in der Bautzener Lauenstraße, in der Wohnung der Slawistin und Pädagogin Ludmila Budarjowa und ihres Mannes, des Schriftstellers und Übersetzers Benno Budar, um eine Volksversammlung zur Erneuerung der Domowina vorzubereiten. Der Dachverband sollte wieder unabhängig und selbstständig werden, so wie er 1912 von den Gründungsvätern in Hoyerswerda gedacht war und bis zum Verbot durch die Nazis 1937 reichlich gewirkt hatte. Am 23. Oktober forderte die Betriebsgruppe der Domowina am Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen, die führende Rolle der SED in der gesamten Gesellschaft sowie in sorbischen Kultur- und Bildungseinrichtungen offen in Frage zu stellen. Das war in der angespannten und ungewissen politischen Situation mutig, zumal damals noch das gesamte öffentliche und private Leben auch der Sorben von der Stasi argwöhnisch überwacht wurde. Dennoch gelang es sorbischen Aktivisten, sich im Neuen Forum und anderen neugegründeten Gruppen und Initiativen sowie später an den regionalen und zentralen Runden Tischen eigenständig einzubringen.

Am 11. November kam es zu einer völlig neuen Qualität des öffentlichen Protestes: Im Bautzener »Kolpinghaus« trafen sich 200 Sorben aus den Bezirken Cottbus und Dresden, aus Leipzig und Ostberlin, darunter auch einige Spitzenfunktionäre der Domowina und SED-Mitglieder, zur 1. Sorbischen Volksversammlung. Wir strebten einen »demokratischen Sozialismus« an, wollten freie und gleichberechtigte Bürger in einer reformierten DDR sein. Dazu bedurfte es jedoch, so unsere einhellige Meinung, eigener Vertretungen der Sorben auf Landes- und auf kommunaler Ebene. Wir wollten uns nicht länger mit der Vereinnahmung in der Nationalen Front zufriedengeben. In der 1. Sorbischen Volksversammlung wurde eine entsprechende Petition an die Volkskammer der DDR und deren Präsidenten Günther Maleuda verabschiedet. In unserem Forderungskatalog widerspiegelten sich Erfahrungen aus einer zwiespältigen Vergangenheit und hohe Erwartungen an bessere Zeiten. Ein neues Nationalitätengesetz und eine Wirtschaftspolitik, die keine sorbischen Dörfer mehr vernichtet, Medienfreiheit, Zweisprachigkeit in Ämtern und Dienstleistungsbetrieben sowie unabhängige, vom sorbischen Volk gewählte Abgeordnete in der Volkskammer und in den kommunalen Parlamenten standen ganz oben auf der Agenda der selbstbewussten und in der Geschichte der Sorben einmaligen Reformbewegung in jenem Wendeherbst ’89.

Etliche Forderungen der »Sorbischen Volksversammlung« sind nach der deutschen Vereinigung in den Verfassungen des Freistaates Sachsen sowie des Landes Brandenburg übernommen worden. Wir sind als eigenständiges Volk in Deutschland anerkannt. Unsere Sprachen (Ober- und Niedersorbisch) und unsere Kultur werden vielfältig geschützt und gefördert. Nicht erfüllt haben sich jedoch die Erwartungen eigenständiger und unabhängiger Vertreter und Vertretungen, die umfassende politische Mitspracherechte besitzen und die kultur- und innenpolitischen Anliegen des sorbischen Volkes in Sachsen und Brandenburg sowie auf überregionaler Ebene im Bundestag artikulieren und einfordern könnten. Die Bildung eines »Serbski sejmik«, einer Volksvertretung aller Sorben und Wenden, steht weiterhin aus. Auch die Zerstörung historisch gewachsener Siedlungs-, Sprach- und Kulturräume durch die (nunmehrige Markt-)Wirtschaft konnte aufgrund eines veralteten Bergbaurechts noch nicht gestoppt werden. Zudem sehen sich Sorben und Wenden heute mit einem rechten Extremismus konfrontiert, der schlimme Erinnerungen und Erfahrungen wachruft.

Benedikt Dyrlich, Jg. 1950, studierte Theologie und Theaterwissenschaft. Der Schriftsteller und ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung »Serbske Nowiny« ist sei 1971 Mitglied der Domowina, war ’89 Mitbegründer der Sorbischen Volksversammlung und saß bis 1994 für die SPD im Sächsischen Landtag.

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