Die finnische Dramatikerin Hella Wuolijoki gewährte Bertolt Brecht im Sommer 1940 Asyl
Jochen Reinert
Lesedauer: 10 Min.
Das finnische Elysium Bertolt Brechts verbirgt sich tief in den Wäldern. Marlebäck? Die pausbäckige Frau an der Kasse der Shell-Station in Kausala weiß damit nichts anzufangen, obwohl der poetische Ort hier irgendwo in der Großgemeinde Iitti liegen muss. Als wir etwas ratlos in unser Mobil klettern, naht Hilfe in Gestalt eines älteren Paares. Flugs malen sie uns eine grobe Skizze. Um sicher zu sein, dass wir nicht doch in die Irre gehen, folgen sie uns in weitem Abstand mit ihrem Auto. Am Ende einer schmalen Asphaltstraße dann das erlösende Hinweisschild: zwei Kilometer bis Marlebäck.
Die legendäre Landvilla, in der Bertolt Brecht, Helene Weigel, ihre beiden Kinder, Margarete Steffin und Ruth Berlau den Sommer 1940 als Gäste Hella Wuolijokis verbrachten, versteckt sich hinter Büschen und Bäumen, jeglicher Hinweis fehlt. Ein herbeieilender Zerberus in blauer Montur hebt abwehrend die Hände, als wir vorsichtig in der Nähe des in hellem Gelb leuchtenden Gebäudes - seit Jahren Ferienheim finnischer Papierarbeiter - zu parken versuchen. Die Leute in den finnischen Wäldern, weiß man seit Aleksis Kivis berühmtem Roman »Die sieben Brüder«, können recht ungemütlich werden, nicht selten aber tauen sie auch auf - wie Zerberus Seppo, der uns schließlich sogar einen Blick ins Allerheiligste genehmigt.
In dem großen Wohnraum des Hauses, das Hella Wuolijoki als Alterssitz für ihre Eltern bauen ließ, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. In der Mitte ein behäbiger Holztisch, an der Wand ein wuchtiger weißer Kamin, bekränzt von bunten Gewerkschaftsfähnchen. Ein Wimpel mit der Aufschrift »Radio DDR« fällt etwas aus dem Rahmen. Die Chiffren des untergegangenen ostdeutschen Staates sagen Seppo durchaus etwas. Irgendwo im Schuppen liege noch eine DDR-Fahne, die er am Mast hochzog, wenn sich ein DDR-Würdenträger ansagte. Der warf dann gewöhnlich auch einen Blick in das einstige Arbeitszimmer Brechts, in dem allerlei Zeugnisse bewahrt werden. Stolz öffnet unser Zerberus eine Mappe, obenauf das knallrote Plakat einer »Puntila«-Aufführung in Iitti. Hinter dem Modell eines »Puntila«-Bühnenbildes zaubert er einen Brecht-Teller aus Meißner Porzellan hervor - »1000 Dollar«, witzelt Seppo. Und das war's dann auch schon. Die noch 1997 von der Berliner Dokumentarfilmerin Heiderose Leopold gesichtete Gedenktafel am Haus, die an Brecht, Wuolijoki und die Kreation des »Puntila«-Stücks erinnerte, ist verschwunden.
Der herrliche Blick von der Terrasse des Hauses auf den Kymi-Fluss, der sich hier zu einem See weitet, versöhnt uns ein wenig mit dem etwas laxen Umgang der Papierarbeiter mit dem Erbe. Das Schilf am Kymiufer rauscht, der Wind fächelt die Birken ringsum. Eine große Stille umfängt uns, die an diesem Tag wohl erst unterbrochen wird, wenn die Papierarbeiater zur Sauna am Ufer ziehen.
Brecht ist von Marlebäck vom ersten Augenblick an sehr angetan. »Fischreiche Wässer! Schönbäumige Wälder! / Birken- und Beerenduft!«, ruft er in seinem Sonett »Finnische Landschaft« enthusiastisch aus. An den Sommerabenden sitzen Brecht und sein Gefolge unten am Kymi mit der lebhaften Hella Wuolijoki zusammen. »Wunderbar die Geschichten der Wuolijoki«, notiert er in seinem Arbeitsjournal, »sie sieht schön und weise aus, wenn sie, ständig sich ausschüttend vor Lachen, von den Listen der einfachen Leute und den Dummheiten der feinen er- zählt ...«
Die Herrin von Marlebäck, 1887 in Estland geboren, geriet schon bald nach Beginn ihrer Helsinkier Literaturstudien ins Dickicht der finnischen Geschichte. Sie lernte alle großen Linken des Landes kennen. Nach der Niederlage der Roten im Bürgerkrieg 1918 half sie Hungernden in den Lagern. Doch parallel dazu mauserte sich eine ganz andere Wuolijoki: Sie stieg in den internationalen Holzhandel ein, kaufte das Gut Marlebäck, wird »kapitalistischer Arbeitgeber mit marxistischer Weltanschauung und dem Glauben an den Bankrott des Kapitalismus«. Und da ist noch eine dritte Wuolijoki: die Dramatikerin, die 1936 mit ihrem Volksstück »Die Frauen von Niskavuori« auch die Bühnen europäischer Metropolen eroberte. Die britische Presse feierte sie als »Finland's number one lady«. In Hamburg dagegen wurde das Stück verboten, als die linke Vita der Autorin durchsickerte.
Das Bild der einstigen Herrin von Marlebäck ist in Finnland im Laufe der Jahre immer mehr verblasst. Dem will ihr Enkel Erkki Tuomioja, seit sechs Jahren Finnlands Außenminister, begegnen - er schreibt derzeit ein Buch über seine Großmutter. Aus einer Helsinkier Verabredung mit dem Minister wurde nichts, wie so oft musste er nach Brüssel düsen. Als Äquivalent schickte er vorab mehrere Kapitel seines Buches, das im Herbst zunächst in Estland erscheinen soll. Klar, dass Tuomioja nicht zuletzt außenpolitische Aspekte des Brecht-Aufenthalts unter die Lupe nimmt.
»Auch wenn Finnland kein antisemitisches Land war«, notiert Tuomioja in dem Kapitel »The Brecht-Episode« seines Buches, »so war es doch ein antisowjetisches Land, besonders nach dem Winterkrieg. Es ist deshalb ein kleines Wunder, dass Bertolt Brecht, ein kommunistischer Flüchtling aus Hitlers Deutschland (der auch weithin als Jude missverstanden wurde), in Finnland Zuflucht suchte und hier 13 Monate blieb ...« Die finnischen Behörden hätten offensichtlich keine Ahnung von seiner Reputation als Schriftsteller und noch weniger von seinem Engagement als Kommunist gehabt.
In Marlebäck genießt auch Hella Wuolijokis Tochter Vappu jene legendären abendlichen »Symposien« am Kymiufer - vor allem dank der Unterhaltungskünste Brechts. Berauscht von seinen eigenen Worten kletterte er auf den Tisch, kroch auf dem Boden herum und karikierte mit schriller Stimme diverse UFA-Primadonnen. »Wir lachten, dass uns die Tränen kamen, und hätten seinem Ein-Mann-Theater stundenlang zuschauen kön- nen ...«
An einem dieser Abende erzählt die Herrin von Marlebäck aufgeräumt von »Onkel Roope«, einem raubeinigen Verwandten, der im normalen Leben ein Schinder, im Rausch jedoch ein netter Typ ist - ein Stoff, den die Wuolijoki gerade in ihrer Komödie »Die Sägemehlprinzessin« gestaltet hatte. Als Brecht, von der »hinreißenden Epikerin« begeistert, Interesse an der Story zeigt, liest sie ihm die Komödie vor - und Brecht fängt Feuer. Am 27. August 1940 notiert er in seinem Arbeitsjournal: »Mit HW ein Volksstück für einen finnischen Wettbewerb begonnen. Abenteuer eines finnischen Gutsbesitzers und seines Schofförs. Er ist nur menschlich, wenn er betrunken ist, da er dann seine Interessen vergisst.« Brecht attestiert Wuolijoki »Gescheitheit, Lebenserfahrung, Vitalität und dichterische Begabung«, die indes »durch die konventionelle dramatische Technik« behindert werde. Bereits am 19. September ist der »Puntila« fertig. Brechts Partnerin zeigt sich nach einigen Einwänden am Ende sehr zufrieden: Später plaudert sie in einem Brief: »Der Brecht hat eine ziemlich zahme bourgeoise Komödie ein wenig proletäri- siert ...«
Seitdem treibt die Theaterwelt die Frage um, wie viel Wuolijoki, wie viel Brecht, wie viel Finnisches, wie viel Deutsches in dem Stück »Herr Puntila und sein Knecht Matti« stecken. Tuomioja resümiert, die Debatte sei letztendlich darauf hinausgelaufen, »dass das Stück ein wahrhaft gemeinsames Produkt ist«. Das sei auch explizit von Brecht anerkannt worden, als er 1941 einen Vertrag über die Fifty-Fifty-Teilung der Tantiemen mit Wuolijoki abschloss.
Der Wuolijoki-Enkel schildert auch, dass der »Puntila« nicht das einzige Produkt ersprießlicher Kooperation der beiden Theaterleute war. Die Finnin trägt ihrem Gast das von ihr zusammengestellte estnische Kriegsepos »Soja laul« vor - für Brecht »das pazifistischste Kriegslied der Welt«. Gemeinsam schaffen sie eine deutsche Fassung, Teile davon baut Brecht in den »Kaukasischen Kreidekreis« ein. Wenig bekannt auch, dass die beiden ein Theaterstück des Japaners Yamamoto Yzo bearbeiteten, das der Brechtforscher Hans Peter Neureuther soeben unter dem Titel »Die Judith von Shimoda« herausgab.
Kaum haben Brecht und sein Gefolge Helsinki im Mai 1941 in Richtung Moskau verlassen, ziehen für Finnland schwere Gewitterwolken am Horizont auf. Im Winterkrieg gegen die Sowjetunion fädelte Hella Wuolijoki im Januar 1940 in Stockholm mit der Sowjetbotschafterin Alexandra Kollontai Verhandlungen ein, die Finnland Frieden brachten. Als das Land ein Jahr später an der Seite Hitlerdeutschlands in den Zweiten Weltkrieg zieht, ist die erprobte Friedensfrau, notiert Tuomioja, »darauf vorbereitet, eine ähnliche Rolle wie im Winterkrieg einzunehmen«; sie erwartet einen Emissär aus Schweden.
Doch es kommt ganz anders. Am Abend des 31. März 1942 klopft plötzlich die sowjetische Fallschirmspringerin Kerttu Nuorteva, Tochter ihres alten finnischen Freundes, an die Tür ihres Gutes Jokela, das sie nach dem Verkauf von Marlebäck erwarb. Doch nichts mit »Friedensfühlern« - die Nuorteva ist auf sensible Informationen aus und übergibt ein Geldbündel. Als die schöne Spionin später in Helsinki gefasst wird, verrät sie ihre Gastgeberin, die nun ebenfalls vors Kriegsgericht kommt. Wuolijoki beharrt auf ihrer Rolle als Friedensfrau, die ominösen Gelder seien die Rückzahlung eines Kredits, den sie einem sowjetischen Diplomaten gewährte. Zu ihrer Verteidigung gelingt es ihr, weiß Tuomioja mitzuteilen, von Brecht aus Kalifornien eine eidesstattliche Erklärung zu erhalten, die bezeugt, dass der Diplomat tatsächlich Wuolijoki um eine Vorauszahlung bat, um die Brecht-Ausreise via Moskau voranzutreiben. »Aber auch wenn es so war«, schreibt Tuomioja, »war das Geld für Wuolijoki so heiß, das sie es am nächsten Tag verbrannte ...«
Von einer »kolossalen Provokation« spricht Hella Wuolijoki im Dezember 1946 in ihrem ersten Nachkriegsbrief an Brecht. Aber schon die Tatsache, dass man ihr aus den USA Entlastung verschaffte und die BBC unaufhörlich von ihr sprach, habe bewirkt, dass die finnischen Falken sie »nicht ohne Weiteres erschießen lassen konnten, wie der Himmler es gefordert hat«. Sie entging nur knapp einem Todesurteil, nach Finnlands Niederlage öffnen sich im September 1944 die Gefängnistore. Schon wenige Tage danach wird sie nach Helsinki gerufen, um Verhandlungen über die Bildung einer Regierung unter Beteiligung der Kommunisten zu moderieren. Sie selbst engagiert sich in der Demokratischen Union des Finnischen Volkes (SKDL) und nimmt als Rundfunk-Generaldirektorin eine der Schlüsselpositionen im Nachkriegs-Finnland ein.
In jenem Brief von 1946 informiert Hella Wuolijoki Brecht und Helene Weigel auch über die neueste Familienpersonalie: »Vappu ist glücklich, hat einen kleinen Sohn« - just den heutigen Außenminister. Und sie fleht geradezu um ein Lebenszeichen der Brechts: »Mein höchster Wunsch ist ein paar Stunden mit Euch schwatzen zu können ...« Das sollte erst Ende 1949 geschehen, als sie, von Brecht eingeladen, nach Berlin kommt. Zuvor allerdings mancherlei Verstimmungen - Wuolijoki erfährt, dass bei der »Puntila«- Uraufführung in Zürich 1946 ihr Name zunächst nicht genannt wurde, und die Tantiemen ließen auch auf sich warten. Aber die »Puntila«-Partnerin, so Tuomioja, brach keinen öffentlichen Streit mit dem »angebeteten Brecht« vom Zaun.
Bei jenem Berlin-Besuch 1949, glaubt der Berliner Literaturwissenschaftler Richard Semrau, der die Wuolijoki-Anthologie »Und ich war nicht Gefangene« 1987 im Hinstorff-Verlag herausgab, wird auch die leidige Tantiemenfrage geklärt. Im Februar 1950 dankt sie Brecht jedenfalls in einem herzlichen Brief für »die wunderschönen Tage in Berlin«, eingeschlossen ein »Puntila«-Besuch im Berliner Ensemble. Aber auch mit der Mitautorenschaft seiner einstigen Marlebäcker Gastgeberin tut sich der BE-Chef weiter schwer. Als ein finnischer Journalist bemängelt, in der ND-Rezension zur zweiten Berliner »Puntila«-Inszenierung im Januar 1952 werde Wuolijoki nicht erwähnt, bittet die Zeitung Brecht um eine Stellungnahme. Darin versichert Brecht, er sei »im besten Einvernehmen mit Hella Wuolijoki«, meint erstaunlicherweise aber, es gebe gar keinen gemeinsamen »Puntila«. Der große B.B. - ein Meister der Verdrängung.
Die Finnin hat wohl in Berlin auch ihr dramatisches Duell mit der hübschen Fallschirmspringerin vor Gericht geschildert, denn in ihrem Dankesbrief von 1950 fleht sie geradezu: »Aber Brecht, ein Schauspiel müssen wir doch zusammen schreiben über mich und die schöne Provokatörin.« Brecht beißt diesmal nicht an. Aber voriges Jahr avancierte die 1954 verstorbene Dramatikerin, eine der bedeutendsten Frauengestalten der jüngeren Geschichte Suomis, doch noch zur Bühnenfigur - der finnische Autor Heikki Ylikangas verewigte sie in seinem Stück »Die acht Auserwählten« zusammen mit jener Schönen, die aus der Kälte kam.
Auf dem Rückweg von Marlebäck schauen wir kurz im Touristenbüro von Iitti vorbei. Ein neuer »Puntila« ist nicht angekündigt, aber in der Werbebroschüre »Beauty in Iitti« wird Wuolijokis Landvilla als lokale Sehenswürdigkeit gepriesen - sogar mit Verweis auf den Brecht-Sommer 1940. Einen Steinwurf weiter auf dem Friedhof zu Füßen einer roten Holzkirche endlose Reihen von Kriegsgräbern. 100 Tote bereits im Winterkrieg, den die Wuolijoki abzukürzen vermochte. Mehr als doppelt so viele im nächsten Waffengang ...
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