Punktsieg im Latmosgebirge?

10 000 Jahre alte Kulturlandschaft in der Westtürkei droht Opfer des Feldspatabbaus zu werden. Von Michael Müller

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.

Friedrich Justin Bertuch will gerade zur Sache kommen. Erstmals hat er seine junge Frau heimgeführt ins prächtige Palais, da stört Lärm vorm Portal. Bertuch öffnet, wird von zwei jungen Männern in die Empfangshalle gedrängt. Sie beschimpfen ihn als »Spießer«, mokieren sich, dass er die Wände mit Tapeten verziert, und reißen sie mit ihren Schwertern herunter. Sie zünden ein Buch auf seinem Schreibtisch an und drohen, den großen Spiegel zu zertrümmern. Bertuch, Weimarer Unternehmer und Geheimer Sekretär am Fürstenhofe ist geschockt: Einer der Randalierer ist sein Chef, Herzog Carl-August, der andere dessen neuer Busenfreund, dieser kürzlich aus Frankfurt übersiedelte Dichter Goethe.

Heute ist von diesem Überfall nichts mehr zu sehen im hochherrschaftlichen Bertuch-Haus, immer noch eines der schönsten Weimars und seit 1955 Sitz des sehenswerten Museums für Stadtgeschichte. Darin natürlich auch Zeitzeugenberichte von Goethes Ankunft 1775: In der Kluft seines Romanhelden Werther - blauer Frack, gelbe Hosen in Stulpenstiefeln - stolpert der damals 26-Jährige in die Residenzstadt des Bonsai-Fürstentums Sachsen-Weimar und Eisenach. Ein 6000-Seelen-Nest mit kurz zuvor abgebranntem Fürstenpalast und Nachttöpfen, die bis 1793 noch aus den Fenstern in die Gassen entleert werden. Bäche voller Unrat laufen bei Regen über. Wo heute akkurates Kopfsteinpflaster liegt, kommt man damals trockenen Fußes nur per Sänfte ans Ziel.

Dennoch, Goethe lässt sich nicht abschrecken, ist zu geschmeichelt von der fürstlichen Einladung. »Herzogin Anna Amalia steckt dahinter, sie lässt ihren Sohn schon seit 1772 vom Dichter Wieland erziehen, erhofft sich zusätzlich positiven Einfluss durch Goethe auf den seit kurzem selbst regierenden, 18-jährigen Carl-August«, erzählt Stadtführerin Svea Geske vorm ausladenden Stadtschloss. Doch Dichter und Herzog raufen sich rasch zum Halbstarkenduo zusammen, das zum Schrecken der Leute morgens stundenlang auf dem Marktplatz die Hetzjagdpeitsche knallen lässt. Wer kann lauter? »Damit nicht genug«, weiß Stadtführerin Geske, »sie ließen Frauen ihre Röcke heben und die Peitsche drunter sausen.«

Der Markt, Weimars zentraler Platz, ist heute ein friedlicher Ort, mit Töpferständen und Bierpilzen, eingerahmt vom verwitterten Rathaus und dem berühmten »Hotel Elephant«, dem Thomas Mann in »Lotte in Weimar« ein Denkmal setzte. Wer sich von hier ein wenig treiben lässt, landet in der Windischenstraße, schlendert an kleinen Läden wie dem Duftparadies »Seife und Sinne« und dem originellen Schmuckhändler »Ring Weimar« vorbei.

Diese verkehrsberuhigte Gasse ist Ende des 18. Jahrhunderts die Rennstrecke von Carl-August. Mit durchdrehenden Pferden und Rädern brettert er aus dem heute pastellgelb strahlenden Wittumspalais, dem Alterssitz seiner Mutter, ins Grüne. Ein schwerer Unfall in der Windischen᠆straße ist belegt, die Kutsche überrollt einen vorausreitenden Husaren und kippt um.

Woher wir das alles wissen? Weil Anna Amalia auf ihrem Altenteil in ebenjenem Palais am ersten Freitag im Monat einen Gelehrtenzirkel einlädt, einer der Teilnehmer fleißig zuhört und noch fleißiger aufschreibt: Klatsch, Intrigen und - heute würde man sagen - miese Mobbinggeschichten notiert Schulrektor Karl August Böttiger, als anerkannter Altertumsexperte gern gesehen bei Hofe. Deutschlands erster Klatschreporter hält - erst 1791 nach Weimar gekommen - viele Geschichten zwar aus der Rückschau fest, wird aber durch Zeitzeugen bestätigt: Die Hofdiener Carl Wilhelm Heinrich von Lynker und Karl Siegmund von Seckendorff etwa oder Dichter Johann Heinrich Voß, der schon 1776 seiner Frau schreibt: »In Weimar geht es erschrecklich zu, der Herzog läuft mit Goethen wie ein wilder Pursche in den Dörfern rum, er besäuft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.«

Die aus solchen Orgien entstehenden, sogenannten Kegelkinder des Herzogs verteilt Goethe im Auftrag seines Herren an Förster und Jäger, einmal auch an seinen besten Freund Karl-Ludwig von Knebel. Und bei Anna Amalia im Literatenzirkel sinnieren die triebgesteuerten Machos dann gern darüber, dass »man in hiesiger Gegend so wenig erträgliche Gesichter unter den Bauernmädeln fände.« Wieland vermutet, es läge an ihrem übermäßigen Kuchenkonsum, Goethe hingegen doziert, die Unsitte, Lasten auf dem Rücken zu tragen, bringe platte Physiognomien hervor. Sofern Goethe eine solche zeitweilig selbst hat, dann liegt es daran, dass er sich auf seinen Landpartien regelmäßig mit dem Kammerherrn von Einsiedeln so heftig prügelt, bis Blut fließt, verrät Böttiger.

Der Schulrektor mit journalistischer Ader wohnt am heutigen Herderplatz, gleich neben der prächtigen, weißen Kirche »St. Peter und Paul«, für die der Herzog im Jahre 1776 Johann Gottfried Herder zum Generalsuperintendenten und ersten Prediger bestellt - auf Anraten Goethes. Der »mistet« - so schreibt er Herder - vor dessen Ankunft schon mal die Dienstwohnung aus. Im Klartext: Er setzt den bisherigen Pastoren mitsamt Frau und zehn Kindern auf die Straße. Goethe selbst - nach seinem Eintreffen zunächst auch am Herderplatz wohnhaft - zieht im selben Jahr ins Gartenhaus im Ilmpark, das er kauft - angeblich. Denn in Wahrheit muss der von Goethe drangsalierte Geheime Rat Bertuch die 600 Taler Kaufpreis aus der Schatulle des Herzogs verbuchen. Wenig später wird in Weimar Goethes FKK-Neigung ruchbar: Verschreckte Spaziergänger sehen ihn nackt in die Ilm springen, raunt man sich im Städtchen zu.

Der Stardichter, ein eifriger Tagebuchschreiber, erwähnt seine Eskapaden allenfalls knapp und verklausuliert: »Tags über Torheiten, dann Glasern geschunden.« Gemeint ist Johann Elias Glaser, Krämer im nahegelegenen Stützerbach, dem Carl August die Vorratsfässer aus dem Lager holt und die Gasse runterrollt. Goethe ritzt derweil den Portraitkopf aus einem Ölgemälde, steckt seinen eigenen von hinten durchs Loch und findet das rasend witzig. Die meisten derart Gepeinigten ertragen solche Überfälle ohnmächtig. Bis auf eine Bäuerin vor den Toren Weimars. Herzog und Dichter ersäufen ihre Katze im Butterfass, kehren kurze Zeit später reumütig zurück und entschädigen die Frau mit einem Goldstück. Darauf sie: Die Butter haben wir an den Fürstenhof nach Weimar verkauft - »da freten sie alles«

Klatschreporter Böttiger schreibt zu Lebzeiten zwar für drei Journale, veröffentlicht solche Geschichten dort aber nicht, sondern tratscht sie in Weimar herum, sehr zum Verdruss aller Literaten. »Arschgesicht« und »Vogelscheuche« nennen sie ihn. Für Goethe ist Böttiger - nach anfänglicher Zusammenarbeit - »einer der gründlichsten Schufte, die Gott erschuf.« 1801 dann der offene Bruch: Goethe verhindert den Abdruck einer ironischen Theaterrezension Böttigers, dieser veröffentlicht sie daraufhin in einem anderen Journal. 1804 wird Böttiger aus Weimar nach Dresden verdrängt. Seine aufgezeichneten Weimarer Skandale und Klatschgeschichten kann er selbst nicht publizieren, sie sind sämtlichen Verlegern zu heikel. Böttigers Sohn bringt das Buch 1838 dann heraus - stark entschärft und unter dem Tarn-Titel »Literarische Zustände und Zeitgenossen«. Die ungekürzte Fassung erscheint erst 1998 - unter anderem mit einer Beschreibung Goethes, die so gar nicht zu den von ihm bekannten Bildnissen passt: »Ekelhaft gelb im Gesicht, keine Haare mehr am Kopf. Seine Augen sitzen im Fett der Backen, er selbst in niedergetretenen Pantoffeln und herabhängenden Strümpfen im Lehnstuhl.«

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