200 Sterbefälle für Soko »Kardio«

Mordprozess gegen Krankenpfleger wird in Niedersachsen zum Politikum

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.
Hat der Krankenpfleger, dem in Niedersachsen drei Morde und zwei Mordversuche angelastet werden, nahezu 200 Patienten totgespritzt? Staatsanwälten wird vorgeworfen, sie hätten nicht richtig ermittelt.

Niels H. schweigt. Mit der roten Prozessakte verdeckt er sein Gesicht, solange Kameraleute ihre Objektive auf ihn richten. Dann setzt sich der ehemalige Pfleger und schaut scheinbar teilnahmslos in den Saal. Seit September ein vertrautes Bild im Landgericht Oldenburg. Drei vollendete und zwei versuchte Morde wirft die Staatsanwaltschaft dem 38-Jährigen vor. Geltungssucht soll ihn dazu getrieben haben, mit dem Medikament Ajmalin bei Patienten gefährliche Herzstörungen auszulösen, um sich dann bei »Rettungsversuchen« als Held aufspielen zu können.

Drei Tote verzeichnet die Anklageschrift. Doch im Raum steht die Frage, ob der Mann weitaus mehr Menschen durch Injektionen umgebracht hat, vielleicht 200 oder mehr.

Hinweise darauf gibt es. Zum Beispiel die Aussagen von Männern, die mit Niels H. im Gefängnis saßen. Dort verbüßt er seit 2008 siebeneinhalb Jahre Haft wegen versuchten Mordes. Der Pfleger hatte in Delmenhorst mittels Spritze einen Kranken töten wollen, befand damals das Gericht. Gegenüber Mithäftlingen soll H. geprahlt haben, er sei »der schlimmste Serienmörder nach dem zweiten Weltkrieg« und: Nach seinem 50. Opfer habe er aufgehört, die Getöteten zu zählen.

Eine erschreckende Todesbilanz stützt diese Behauptung. Als Niels H. von 2003 bis 2005 im Klinikum Delmenhorst arbeitete, stieg dort die Zahl von durchschnittlich 80 Verstorbenen pro Jahr auf rund 200. Parallel dazu wuchs der Verbrauch von Ajmalin, das Nebenwirkungen bis zum Herztod haben kann, von 50 auf 380 Ampullen jährlich.

Auch im Klinikum Oldenburg, wo H. zwei Jahre lang tätig war, sind mehrere Menschen unter fragwürdigen Umständen gestorben. Ein Gutachter berichtet: Es habe während der Dienstzeit des Pflegers zwölf Todesfälle gegeben, »bei denen alles darauf hindeutet, dass es ein Eingreifen von außen gegeben hat«.

Wurde im Zusammenhang mit dem auffälligen Sterben seitens der Staatsanwaltschaft Oldenburg geschlampt? Das prüft zurzeit die Staatsanwaltschaft im 100 Kilometer entfernten Osnabrück. Ihre Ermittlungen richten sich dabei auf zwei ehemalige Staatsanwälte, die seinerzeit mit der Sache befasst waren. Ermittelt wird nun auch gegen acht Beschäftigte der Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg. Es bestehe der Anfangsverdacht auf Totschlag durch Unterlassen, informiert die Anklagebehörde. Zu Delmenhorst gebe es Anhaltspunkte, dass verantwortliche Mitarbeiter dort schon 2004 auf einen ungewöhnlichen Mehrverbrauch von Ajmalin hingewiesen worden seien, aber nicht reagiert hätten.

Politisches Kapital aus dem Geschehen hatte jüngst die CDU im Landtag schlagen wollen. Sie versuchte, Versäumnisse bei den Ermittlungen der grünen Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz anzulasten. Das sei Opfern und Angehörigen gegenüber geschmacklos, rügt der stellvertretende SPD-Fraktionschef Uwe Schwarz. Die rot-grüne Landesregierung wolle zur Aufklärung der Todesfälle beitragen und dafür sorgen, dass sich »solche Taten nicht wiederholen«. Zurzeit liegt die Aufklärungsarbeit bei der polizeilichen Sonderkommission »Kardio«. Sie ermittelt an allen ehemaligen Arbeitsplätzen des Angeklagten, auch in einem Pflegeheim in Wilhelmshaven. Im Zusammenhang mit Todesfällen in früheren Arbeitsbereichen des Pflegers gebe es inzwischen 178 Ermittlungsverfahren, sagte Justizministerin Niewisch-Lennartz unlängst im Landtag. Aber es sei denkbar, dass sich diese Zahl noch erhöht.

Solche Nachrichten können Patienten daran zweifeln lassen, ob sie im Krankenhaus sicher sind vor Straftaten. Mit dieser Frage befasst sich auch Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD). Sicherungssysteme in Kliniken und Pflegeheimen werden überprüft, hat sie angekündigt.

Für die Angehörigen von Kranken, die im Arbeitsbereich von Niels H. starben, ist das kein Trost. Unsicherheit über die wahre Todesursache bleibt. Klärung könnten womöglich Exhumierungen und Obduktionen bringen. Ob und wie viele Särge ausgegraben werden, konnten die Behörden noch nicht sagen. Frühestens werde das Anfang 2015 geschehen. Dann wird auch der Prozess fortgesetzt. Mehrfach hat Richter Sebastian Bührmann mittlerweile an den Angeklagten appelliert, er möge doch reden und durch seine Aussagen den Angehörigen der Toten die Ungewissheit nehmen. Niels H. schweigt.

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