Der Speicher ist immer voll

Vieles, was über das Gehirn gesagt und geschrieben wird, gehört ins Reich der Legenden. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Kurz nach der Wende fand ich in meinem Briefkasten einen Werbezettel, der sofort meine Aufmerksamkeit erregte. Denn ich erkannte darauf das Porträt von Albert Einstein, dem man das folgende Zitat in den Mund gelegt hatte: »Der Mensch nutzt nur 10 Prozent seines Gehirns.« Wer also im Leben rascher vorwärts kommen wolle, erfuhr ich weiter, sollte unbedingt auch die restlichen 90 Prozent nutzen. Der Zettel stammte, soweit ich mich erinnere, von der Scientology-Sekte, die es sich natürlich nicht nehmen ließ, Kurse für das angebliche Gehirntuning gleich selbst anzubieten.

Abgesehen davon, dass Einstein den Satz nie geäußert hat, ist er auch inhaltlich unzutreffend. Er gehört zu jenen zahlreichen Mythen, die sich traditionell um das Gehirn und damit ein Organ ranken, das wie kein zweites das Wesen des Menschen prägt. Würden wir nämlich tatsächlich nur 10 Prozent des Gehirns nutzen, hätten zum Beispiel lokale Hirnschädigungen bei den meisten Betroffenen keine körperlichen oder mentalen Ausfälle zur Folge, was aber, wie jeder weiß, leider doch der Fall ist.

Es sind heute vor allem die bildgebenden Verfahren, die den Schluss nahelegen, als seien bei bestimmten Tätigkeiten nur einige wenige Regionen unseres Gehirns aktiv. Auf Hirnbildern leuchten diese Regionen, da sie etwas stärker durchblutet sind, in einem kräftigen Rot, während die anderen Bereiche grau erscheinen. Allein die schöne neue Bilderwelt ist trügerisch. Denn sie bietet dem Betrachter keine Momentaufnahmen des Gehirns. Die Bilder wurden von Wissenschaftlern vielmehr nachbearbeitet - in der Absicht, die geringen Blutflussunterschiede in verschiedenen Hirnregionen besser kenntlich zu machen. »Tatsächlich geht’s im Gehirn überall richtig zur Sache. Ständig verändert sich die Durchblutung in sämtlichen Hirnbereichen, jede Region passt ihre Aktivität permanent an«, sagt der Neurobiologe Henning Beck, der als Science-Slammer und Buchautor die Resultate der Hirnforschung seit Jahren kritisch hinterfragt.

Während andere Körperorgane wie Darm oder Muskeln öfter mal eine Pause einlegen, arbeitet das Gehirn immer, selbst im Schlaf. Und obwohl es nur zwei Prozent unserer Körpermasse ausmacht, benötigt es rund 20 Prozent der täglich erzeugten Energie. Damit das Gehirn richtig funktioniert, müssen die darin befindlichen Nervenzellen über sogenannte Synapsen in einem Netzwerk weiträumig miteinander verknüpft sein. Diese Verknüpfungen bleiben aber nur dann erhalten bzw. werden verstärkt, wenn man sie häufig in Anspruch nimmt. Geschieht das nicht, lösen sie sich mit der Zeit auf. Folglich wäre bei einem Menschen, der nur einen Teil seines Gehirns nutzen würde, neben der Kommunikation der Nervenzellen auch die Denkleistung erheblich beeinträchtigt.

Das Gehirn arbeitet also stets mit 100 Prozent - und ist trotzdem in der Lage, neue Informationen aufzunehmen, sprich zu lernen. Dabei verändert sich permanent die Struktur des Nervenzellnetzwerkes: Nicht gebrauchte synaptische Kontakte werden abgebaut, neue Verbindungen hergestellt. Das hat zur Folge, dass unser Gehirn eine einmal gespeicherte Erinnerung nicht mit einem Schlag löschen kann, selbst wenn diese lange nicht mehr abgerufen wurde. Dass Erinnerungen dennoch regelmäßig verloren gehen, hat einen anderen Grund: Wenn neue und wichtige Informationen in das Nervenzellnetzwerk integriert werden, kann es passieren, dass die Verbindung zwischen einer Erinnerung und den sie auslösenden neuronalen Reizen an Stabilität verliert und am Ende abreißt. Damit verschwindet ein Teil unserer Vergangenheit unwiederbringlich in den Tiefen des Unbewussten.

Früher hieß es, ein Gehirn funktioniere ähnlich wie ein Computer. Das gilt inzwischen als überholt. Und auch die Vorstellung, dass das Gehirn über eine Art Festplatte verfüge, die sich beim Lernen immer mehr mit Daten fülle, zählt Beck zu den Neuromythen. Denn erstens hält unser Gehirn Daten nur dann fest (zum Beispiel mehrere Ziffern), wenn diese etwas bedeuten (etwa eine Telefonnummer). Und zweitens legt es, anders als ein Computer, die Daten nicht irgendwo separat ab. Eine gespeicherte Information ist vielmehr identisch mit dem Aktivitätsmuster eines Nervenzellnetzwerks. Oder anders formuliert: Im Gehirn sind Hard- und Software dasselbe.

Obwohl der Mensch praktisch eine unbegrenzte Lernfähigkeit besitzt, denn es gibt mehr neuronale Aktivitätsmuster als Atome im Universum, sind die »Datenspeicher« unseres Gehirns jederzeit voll, betont Beck: »Der ›Speicherplatz‹ im Gehirn ist dynamisch und immer so groß wie gerade benötigt.« Kommt ein neuer Gedanke hinzu, verändert sich die innere Ordnung vorhandener Netzwerke, was gewöhnlich damit einhergeht, dass sich die zu bestimmten Informationen gehörenden Aktivitätsmuster überlappen. So ist etwa die Information »lecker« bei vielen Menschen gleichzeitig Teil der Netzwerke »Currywurst« und »Schokoeis«. Dank solcher Netzwerke sind wir in der Lage, assoziativ zu denken. Das heißt, wir gelangen leicht von einem Gedanken zu einem anderen und bei Bedarf auch wieder zurück.

Viele Menschen geben zudem an, dass sie mühelos mehrere Tätigkeiten synchron ausführen könnten: telefonieren, E-Mails schreiben, Musik hören etc. »Multitasking« nennt man diese Fähigkeit, die laut Beck ebenfalls auf einem Mythos beruht. Denn unser Gehirn ist gar nicht in der Lage, gleichzeitig mehrere Probleme bewusst zu bearbeiten. Es kann zwischen diesen nur schnell hin und her springen. Das mag bei einfachen Tätigkeiten noch angehen. Bei schwierigeren Aufgaben jedoch leidet darunter die Genauigkeit der Lösung. »Niemals ist man so effektiv, wie wenn man eine Aufgabe für sich bearbeitet«, schreibt Beck. »Jedes zusätzliche Problem, das um Aufmerksamkeit ringt, verschlechtert unsere Leistung.« Er rät deshalb jedem, der sich für eine Multitasking-Begabung hält, damit nicht allzu sehr anzugeben. Immerhin könnte die Tatsache, dass selbst ernannte Multitasker unter experimentellen Bedingungen oft unkonzentriert sind und sich leicht verzetteln, auch so manchem Chef geläufig sein.

Henning Beck: Hirnrissig. Die 20,5 größten Neuromythen - und wie unser Gehirn wirklich tickt. Hanser Verlag, 271 S., 16,90 €.

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