Lieder als gesungenes Willkommen

In Frankfurt treffen sich Deutsche, Polen und Kriegsflüchtlinge zum gemeinsamen Gesang

  • Henry-Martin Klemt
  • Lesedauer: 6 Min.

»Let´s sing«, sagt Thomas Spicker und reicht die A4-Blätter im Kreis herum, bevor er anstimmt: »Shalom, chavarim …« Ein kleines Lied aus Israel, ein Abschied vom Freund, dem man Frieden auf seinem Weg wünscht. Und doch widerstreiten in der schlichten Melodie die Schwermut und die Aufbruchstimmung, die Hoffnung auf Besseres, wenigstens für den, der geht.

Das ist ein Gefühl, das die meisten der Singenden kennen. Sie kommen aus Kamerun, Eritrea, Somalia, aber auch aus Frankfurt (Oder) und dem benachbarten Slubice. Im Kontaktcafé des Mehrgenerationenhauses Mikado in Frankfurt (Oder) treffen sie sich alle zwei Wochen, um zu singen - und um nicht allein zu sein.

Michael Kurzwelly vom Verein Slubfurt, einem deutsch-polnischen Kreativ- und Kunstprojekt, lacht auf, wenn er gefragt wird, weshalb er hierher kommt. »Das sind meine Freunde«, sagt er. »Ich bin an einem internationalen Gymnasium groß geworden. Andere Menschen und Kulturen kennenzulernen, das ist ein Urbedürfnis für mich.« Und so übersetzt er zwischen Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch hin und her und hofft, dank der Flüchtlinge bald auch die ersten Brocken Arabisch zu können.

Die Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, sind in Kurzwellys Augen Teil der Globalisierung. »Das Geld kreist in rasender Geschwindigkeit um den Erdball. In Bangladesh nähen Kinder unsere Mode zusammen, und wir tun so, als ob die Leute hier uns etwas wegnehmen wollen? Wie verträgt sich das mit der humanistischen Aufklärung und den christlichen Werten? Globalisierung heißt globale Verantwortung, auch für das Leben dieser Menschen.« Niemand verlässt ohne Not seine Heimat, davon ist Kurzwelly überzeugt, und die Geschichten der Flüchtlinge, die beim »Gesang der Kulturen« mitmachen, geben ihm Recht.

Freddy Ovongo Meba lebte im Nordwesten Kameruns, bis der Bürgerkrieg sein Dorf erreichte. In der Nacht kamen die Rebellen, brannten die Häuser nieder, brachten die Männer um. Mit seinem Bruder Cyprien und drei anderen gelang Freddy die Flucht. Zunächst fanden sie Unterschlupf bei Verwandten. Dann zog Freddy weiter nach Zentralafrika, eröffnete einen kleinen Laden. Doch auch dort holte der Bürgerkrieg ihn ein. Das Geschäft wurde verwüstet. Wieder waren die Brüder auf der Flucht. Ein Jahr lang führte ihr Weg sie durch Niger, Algerien, Marokko: Wenn sich Gelegenheit bot, arbeitete Freddy als Elektriker, Schweißer, Fahrer oder in der Landwirtschaft. Nur die Meerenge von Gibraltar trennte ihn noch von Europa. Hin und her fuhren die großen Schiffe. Fischkutter tänzelten auf den Wellen. Eines Nachts setzten sie zu zehnt mit einem Schlauchboot über.

Die spanische Polizei sperrte Freddy ins Gefängnis, dann kam er wochenlang in ein überfülltes Lager für illegale Einwanderer, schließlich war er drei Monate bei einer Nichtregierungsorganisation in Sevilla untergebracht. Die schickte einmal in der Woche jemanden, der den Kühlschrank füllte. Dann schickten sie ihn fort. Für ihr letztes Geld brachte ein Überlandbus Freddy und seinen Bruder von Barcelona nach Berlin. Die beiden haben Angst. Cyprien ist nur einer Abschiebung entgangen, weil er nicht im Heim war, als die Polizei kam. Jetzt kommen die Beamten meist nachts. Doch inzwischen hat ihr Anwalt Klage eingereicht. Die Bedingungen in Spanien verstießen gegen die EU-Menschenrechtskonvention, so der Vorwurf.

Die Zurückhaltung der Deutschen versucht Freddy gelassen zu sehen. »In meinem Dorf würde ein Weißer auch auffallen. Man muss erst einmal ins Gespräch kommen miteinander.« Das gelingt hier oder beim Kirchgang. Dort hat er Martin Patzelt kennengelernt, der für die CDU im Bundestag sitzt und früher Oberbürgermeister in Frankfurt war. Was Freddy fehlt, ist Arbeit. Die Kommunikation mit der Familie in Kamerun kostet Geld. »Es ist auch wirklich sehr langweilig im Heim«, sagt er. »Und nie weißt du, was morgen passiert.«

Diese Sorge kennt auch Omar Ibrahim. Vor drei Wochen ist er Vater geworden. Einerseits soll er vielleicht mit seiner Frau und seinem Töchterchen Fatima, das als Frühchen noch auf der Intensivstation liegt, eine kleine Wohnung bekommen. Andererseits ist sein Aufenthaltsstatus ungeklärt. Auch er hat Klage eingereicht, aber er habe gehört, Frankfurt sei ein schlechtes Pflaster dafür. »Man will uns hier nicht, die Richter schieben lieber ab.«

Omar ist 2005 vor dem Bürgerkrieg aus Somalia geflohen. »Es war auch ein ethnischer Krieg. Menschen wurden entführt und umgebracht.« Über den Sudan ging er nach Ägypten und studierte dort Verwaltungsmanagement. Seinen Lebensunterhalt verdiente er an einer Hotelrezeption. Schließlich trieben ihn Geldsorgen weiter nach Spanien. »Dort zu leben, macht Probleme«, stellt er fest. Als er seine Frau kennenlernte, ging er mit ihr nach Schweden. Dort wollten die Behörden sie zurückschicken, deshalb versuchten sie ihr Glück in Deutschland. Omar hat früher schon gern gesungen, am Lagerfeuer, wenn Freunde Gitarre spielten. »Ich möchte Leute kennenlernen. Die Menschen, die hier zusammen singen, halten auch zusammen.« Eine Frankfurterin hat ihn öfter im Asylbewerberheim besucht. Zu Weihnachten lud sie den Muslim nach Hause ein. »Ich würde gern bleiben. Ich habe meine kleine Familie hier, ein paar Freunde. Wir singen nicht nur zusammen, sondern verbringen auch manchmal unsere Freizeit miteinander.«

»Come together« singen sie. Zwei Dutzend Leute aus verschiedenen Winkeln der Welt. John Lennons Melodie ist nicht einfach und der Text ist lang. Geduldig übt Thomas Spicker mit ihnen. Der Volkshochschullehrer hatte sich einst vom Zivildienstgeld ein Klavier gekauft und später in Konstanz deutsche und russische Literatur und Philosophie studiert. Als er das Klavier beim Umzug nicht mitnehmen konnte, kaufte er sich eine Blockflöte, später kam er zur Klarinette. Als Waldorflehrer hat er einmal erlebt, was in einem Treppenaufgang passieren kann, wenn dort plötzlich ein Kanon erklingt. »Das war ein Schlüsselerlebnis.«

Auch in Kasachstan, wo Spicker fünf Jahre als Sprachassistent an Universitäten arbeitete, gehörte der Gesang zum Leben, wie das Sommercamp oder das Theaterspiel. Zurück in Deutschland, wollte er an der Europa-Universität Viadrina arbeiten. Doch ein schwerer Unfall durchkreuzte seine Pläne. Immerhin lernte er das Theater Frankfurt kennen, eine freie Bühne, die auch Treffpunkt von Kreativen in der Stadt ist. Dort traf er Michael Kurzwelly.

»Durch das Singen kommt man sehr unmittelbar in Kontakt zu den Menschen«, erzählt Thomas Spicker. »Kulturelle Unterschiede spielen dabei keine behindernde Rolle. Und ich wollte mit Asylbewerbern zusammenarbeiten, weil ich das Befruchtende finde in der Begegnung mit anderen Kulturen, weil ich die Energie von ihnen spüre. Und jedes Wissen kommt erst durch Kommunikation zustande.«

Die Lieder, die sie gemeinsam singen, sucht Thomas Spicker sorgfältig aus. Nicht zu schwer sollen sie sein, verschieden genug, um die Stimmungen und Gefühle der Singenden zu tragen. Jeder gewinnt etwas Neues dabei. Als sich ein paar Dutzend Rassisten in der Stadt zusammenrotteten und die Straßen entlang grölten: »Wir wollen keine Asylantenheime«, da sangen sie gemeinsam mit den Gegendemonstranten: »Well, if you want to sing out, sing out. And if you want to be free, be free.« Wenn Du frei sein willst, dann sei frei.

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