»Kleine Sonne« als junger Lichtblick

Bei den deutschen Schwimmmeisterschaften schauen viele auf die erst 17-jährige Berlinerin Sonnele Öztürk

  • Klaus Weise
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Donnerstag sprangen die ersten Schwimmer zu den 127. Deutschen Meisterschaften in Berlin ins Becken - ein Championat, das nach der Philosophie des ebenso zielstrebigen wie eloquenten Chefbundestrainers Henning Lambertz »den begonnenen Aufschwung fortsetzen und verstetigen soll«. Und das den Sockel für die Qualifikation zur WM im Sommer in Kasan bildet. Drei Athleten haben das Ticket nach Russland auf ihren Paradestrecken schon in der Tasche: der Europameister über 200 Meter Brust, Marco Koch, Paul Biedermann (200 m Freistil) und Steffen Deibler (100 m Schmetterling). Alle anderen sind in der Bringschuld. Die hat der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) recht laienunfreundlich fixiert, dennoch sei der Versuch unternommen, sie verständlich zu vermitteln.

In Berlin sind in Vor- und Endläufen Normen zu unterbieten, die dann im Saisonverlauf erneut bestätigt werden müssen. Sieben Wettkämpfe, von denen sich die Athleten für einen entscheiden müssen, gibt Lambertz dafür zur Auswahl von Ende Mai bis Anfang Juli. Bei den German Open in Essen ist der Start Pflicht. Das macht zwar mehrere Chancen auf, verpflichtet aber auch zur Leistungskonstanz auf hohem Niveau, die den deutschen Schwimmern in der Vergangenheit oft fehlte. Der Bundestrainer baut bei der WM zum einen auf wenige Arrivierte als Korsettstangen des Teams, aber sonst auf das von ihm initiierte Perspektivteam.

Eine der Persönlichkeiten daraus könnte die nicht nur wegen 1,90 m Körperlänge herausragende 17-jährige Sonnele Öztürk sein, die im Vorjahr bei der Heim-EM ihr Debüt bei den »Großen« gab und auf den Rückenstrecken als große Hoffnung für die Zukunft gilt. Die Abiturientin, die eigentlich im Olympiajahr 2016 ihre schulische Reifeprüfung zu absolvieren hätte, aber wegen der Ballung der Herausforderungen mit Lambertz’ Einwilligung zeitweilig aus dem Perspektivteam ausschied und eine Schulzeitstreckung anstrebt, könnte zum Glücksfall für das deutsche Frauenschwimmen werden.

Öztürk hat nicht nur das Potenzial für Spitzenresultate, sondern auch alle Anlagen einer starken, eigenständigen Persönlichkeit mit Charakter und Charisma wie es sie seit Franziska van Almsick oder Britta Steffen kaum mehr gab. Vater Teoman, zehn Jahre lang Center der Basketballer von Alba Berlin, 1993 mit den deutschen Basketballern Europameister und heute Lehrer, hat ihr offenbar nicht nur die konstitutionellen Gene, sondern auch den Ehrgeiz, die Konsequenz und das Durchhaltevermögen eines Spitzenathleten mitgegeben.

Dass Sonnele Schwimmerin und nicht Basketballerin wurde, hat er maßgeblich mitverursacht. »Meine Eltern wollten, dass ich schnell schwimmen lerne, da wir oft Urlaub in der Türkei oder Spanien gemacht haben. Das hat mir Spaß gemacht, und wurde dann immer mehr ...« Bei Spandau 04 ging sie das Hobby irgendwann sportlicher an, mit zwölf wechselte sie ins Sportinternat nach Potsdam, kam nach vier Jahren zurück nach Berlin an die Seelenbinder-Sportschule, wo sie nun aufs Abi zusteuert. Bei den deutschen Meisterschaften in Berlin wird sie neben den 400 Meter Freistil (am Freitag »zum Warmmachen«) vor allem in ihren beiden Hauptwettbewerben über 200 und 100 Meter Rücken versuchen, Jenny Mensing aus Wiesbaden die nationale Krone streitig zu machen. Henning Lambertz freut sich auf dieses Duell: »Das wird ein heißer Kampf, man muss sehen, wer die besseren Steherqualitäten hat.«

Der Chefbundestrainer, der jede »kleine Sonne« (so die Bedeutung des alten deutschen Vornamens) am bei der Heim-EM 2014 medaillenlos gebliebenen Frauenschwimmhimmel gut gebrauchen kann, sagt: »Sonnele liegt sehr schön im Wasser. Das sieht alles sehr rutschig aus. Ihre Körpergröße ist ein Plus. Wenn sie die nötige Kraft auf ihre extrem langen Arme bekommt, dann hat sie einen großen Vorteil.« Ihr früherer Trainer Harald Gampe beschrieb sie als »eine sehr fleißige, ehrgeizige Sportlerin. Sie weiß, was sie will. Sie hat das Rundumpaket.« Marko Letz, Trainer in Potsdam, bescheinigte, sie habe »unglaubliches Wassergefühl« und »liegt wie eine Feder auf dem Wasser«. Vergleiche mit anderen Schwimmern wagt niemand, sie selbst lieber auch nicht: Sie verzichte ganz bewusst auf Vorbilder, sagt Öztürk, weil sie lieber eigene Fußstapfen hinterlassen will.

2013 war Sonnele Öztürk Jugend-Europameisterin über 200 Meter Rücken, im selben Jahr bei der Kurzbahn-EM der »Erwachsenen« auf der gleichen Strecke bereits Fünfte. Nun, das befinden nicht nur die Trainer, sondern auch sie selbst, »ist es Zeit für den nächsten Schritt - ich bin dazu bereit«. Trotz des enormen Trainingsaufwandes - »Ich stehe kurz vor sechs auf, gehe in die Mensa, schwimme von sieben bis neun Uhr. Anschließend geht es zur Schule und von 16.30 bis 19 Uhr wieder zum Training« - ist ihr der Spaß an der Sache nicht abhanden gekommen. Stattdessen sagt sie ungewohnt drastisch: »Wenn man sich das ganze Jahr den Arsch aufreißt und beim Anschlag im Becken dann merkt, man hat sein Ziel erreicht - das ist ein unbeschreibliches Gefühl.«

Vater Teoman ist stolz darauf, wie die mittlere seiner drei Töchter ihr junges Sportlerleben mittlerweile selbst bewältigt: »Wir konnten uns beim Basketball ja immer hinter unseren Mitspielern verstecken. Sonnele nicht. Bei ihr liegen die Karten auf dem Tisch.« Vermutlich sind ein paar Asse darunter.

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