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Russland feiert

Der Sieg als Austauschware

  • Ute Weinmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Der 9. Mai bestimmt wie kein anderer Festtag in Russland das Selbstverständnis einer Nation, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder »von ihren Knien erhoben« habe, um in voller Größe aufzuerstehen. So zumindest drückte es der russische Präsident Wladimir Putin aus. Über die Höhe des Falls und das Phänomen des Wiederaufstiegs ließe sich lange diskutieren. Fest steht, dass der 70. Jahrestages des Sieges schon Wochen vorher allseits Präsenz zeigt - ob auf dem Fernsehbildschirm, riesigen Werbetafeln oder durch diverse Rabattangebote für Kriegsveteranen.

Dieser Sieg vor 70 Jahren hatte die europäische Landkarte nachhaltig verändert, der vorausgegangene verheerende Angriffskrieg Nazi-Deutschlands tiefe Spuren in der sowjetischen Gesellschaft hinterlassen. Damals setzte die Rote Armee unter Aufbietung aller Kräfte dem Nazi-Regime ein Ende. Zu einem hohen Preis.

Erst 20 Jahre nach Kriegsende erhob die Sowjetunion den Tag des Sieges zum staatlichen Feiertag, der seither mit Pomp und Militärparaden abgehalten wird. Nur während der Perestroika ließ die Intensität der ritualisierten Abläufe rund um den 9. Mai nach. Moskau hatte damals andere Sorgen.

Viele fragwürdige Aspekte der militärischen Kriegsführung und insbesondere Stalins Rolle blieben lange Zeit wenig beachtet. Immer aber gehörte zu den Feierlichkeiten und den sie begleitenden Diskussionen, dass die Sowjetunion 1945 einen realen Gegner besiegte. Unter Wladimir Putin gewann der 9. Mai als zentraler identitätsstiftender Feiertag wieder an Bedeutung.

Damit einher ging vor dem Hintergrund einer zunehmend verblassenden Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Neuinterpretation der bislang zentralen Siegesbotschaft: nicht mehr den hart erkämpften Sieg über Nazi-Deutschland oder den Faschismus gelte es zu feiern. Vielmehr habe Russland seine Stärke bewiesen im Kampf gegen einen abstrakten - im Zuge der Maifeierlichkeiten praktisch nicht mehr benannten - äußeren Feind.

Der Sieg verkommt zur Austauschware und lässt sich nach Belieben auf heutige Verhältnisse projizieren. Es scheint, als gelte es die Schlacht um Stalingrad immer wieder neu zu gewinnen. Zum 60. Jahrestag machte sich die russische Führung in populistischer Manier die Symbolkraft der schwarz-orangen »Sankt-Georgs-Bänder« zunutze.

Einst als Soldatenorden für besonderen Heldenmut verliehen, darf sich mit einem gestreiften Bändchen am Auto oder an der Tasche jeder mit Siegesruhm schmücken, für den andere ihr Leben einsetzten. Tendenzen werden gestärkt, wonach Stalin als »erfolgreichem Manager« ein wesentlicher Anteil am Sieg gebühre. Kritische Hinweise russischer Historiker auf Maßnahmen, die die Kriegsführung beeinträchtigten, oder Massenrepressionen werden bestenfalls als Nebenwiderspruch eingeordnet.

Kriegsveteranen stehen folglich am 9. Mai nicht mehr im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie erhalten aufgrund einer in diesem Jahr verhängten Anwesenheitsquote von einem Vertreter pro Region nur begrenzten Zugang zum Hauptereignis der Siegesfeierlichkeiten: der Militärparade auf dem Roten Platz. Wer als einer der etwa 252 000 heute noch lebenden Veteranen anreisen will, dem wird eine Unterkunft gestellt. Der Zutritt zum Roten Platz bleibt aber ohne spezielle Einladung verwehrt.

Die russische Linke, die sich nach wie vor überwiegend dem sowjetischen Siegesdiskurs verpflichtet fühlt, hat zur Umdeutung dieses zentralen historischen Datums wenig zu sagen. Trotz geringfügiger Differenzen zur offiziellen Lesart des Tages des Sieges, fällt generell das Fehlen von Distanz zu den Positionen der staatlichen Führung zum Thema Vergangenheit auf. Das verwundert nicht sonderlich. Auch der außenpolitische Kurs des Kremls trifft zumindest im traditionellen kommunistischen Spektrum weitgehend auf Zustimmung.

Seit Beginn der Ukraine-Krise drückt sich die Haltung zum 9. Mai unweigerlich in der Bewertung der Maidan-Bewegung und der sogenannten Volksrepubliken im Donbass aus. Der abstrakte Gegner nehme in der Ukraine, so der Grundtenor, wieder konkrete Gestalt an und der Faschismus werde besiegt wie einst. Dass sich die europäische extreme Rechte im russischen St. Petersburg auf Einladung staatsnaher Kräfte unlängst zu einem »konservativen Forum« einfand, ist kaum eine Randnotiz wert. Als ob der historische Sieg an sich bereits Immunität gegenüber faschistischen Einflüssen vor der eigenen Haustür verschaffe.

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