Verändern, bewahren

Doris Lessing beim 6. Internationalen Literaturfestival Berlin

  • Roland Müller
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Als sie die Große Bühne des Berliner Festspielhauses betrat, in einem schwarzen Gewand, das Haar fast weiß, würdevoll, mit einer Rose in der Hand, spendete ihr das Publikum in dem bis auf den letzten Platz besetzten Saal minutenlang Ovationen: Doris Lessing, die große alte Dame der englischen Literatur, war seit langem wieder einmal in Berlin und blickte sichtlich gerührt auf die viel jüngeren Menschen. Kurz nach dem Krieg, erzählte sie, war sie zum ersten Mal in Berlin, da war es flach und platt. Dann, 15 Jahre danach, bei ihrem zweiten Besuch, sei schon wieder etwas hochgewachsen, und jetzt ist alles wie neu. Und unter erneutem Beifall und lachender Zustimmung rief sie aus: »Was wir nicht alles erlebt haben! Epidemien, Krisen, Kriege, Krankheit, und wir existieren immer noch. Hitler, Stalin, Mussolini glaubten, ihre Reiche würden sich 1000 Jahre halten können. Jetzt sind die weg, und wir leben aber immer noch!« Doris Lessing wurde 1919 in Kermanshan im damaligen Per-sien, heute Iran, geboren und kam schon als Kind auf die Farm ihrer Eltern im Süden Rhodesiens. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat sie Afrika verlassen und lebt seit 1949 in London. Obwohl sie als englische Schriftstellerin gilt, haben zahlreiche ihrer Werke den afrikanischen Kontinent als Schauplatz. Von Beginn an ist sie in ihren Büchern leidenschaftlich gegen Kolonialisierung, Unterdrückung und Rassenvorurteile aufgetreten. So vor allem in ihrem 1950 erschienenen Roman »The Grass is Singing«, deutsch »Afrikanische Tragödie« (1953), oder im Erzählband »This Was The Old Chief's Country« (»Das war das Land des alten Häuptlings«). Dort sei, erzählt sie mit rauer tiefer Stimme, wie eine Diseuse und mit viel Witz, die Großmutter im Dorf so etwas wie »eine weiterführende Schule« gewesen, und »man sollte sie heute in unserer modernen Schule als Unterrichtsmethode wieder einbauen«. Die Großmutter oder Urgroßmutter, die ihren Kindern und Kindeskindern Familiengeschichten erzählt! Das sei für sie ein unendlicher Quell für ihre Literatur gewesen. Bis 1956 gehörte Doris Lessing der Kommunistischen Partei an. Sie sei vor allem als junge Frau begeistert und leidenschaftlich für diese Ideen eingetreten, sie habe fest an dieses neue Weltbild geglaubt. Bis die große Enttäuschung kam: als sie von den Verbrechen unter Stalin erfuhr. Doch gerade in diesem persönlichen und politischen Zwiespalt entstanden fast alle ihre großen Erzählwerke, die sie weltberühmt gemacht haben, so besonders die Romanserie »The Children Of Violence», bekannt geworden als »Die Kinder der Gewalt«, in der vom Schicksal eines weißen Mädchens unter dem Einfluss des politisch erwachenden Afrikas erzählt wird. Von Beginn der sechziger Jahre an gingen ihre Bücher thematisch und in der Auswahl ihrer Helden in eine etwas andere Richtung, indem sie stärker auf psychologische Aspekte setzte und auch Erotisches in den Blickpunkt rückte. Berühmt geworden ist in dieser Hinsicht der 1962 veröffentlichte Roman »The Golden Notebook« (»Das goldene Notizbuch«) sowie einige Dramen wie »Play With A Tiger« (»Spiel mit einem Tiger«). Hieran vor allem knüpfte die Veranstaltung am späten Dienstagabend an. Die Moderation hatte der in Argentinien geborene Autor Alberto Manguel, berühmt vor allem durch »Eine Geschichte des Lesens«, die Übersetzung besorgte Lilian-Astrid Geese. In Englisch und Deutsch (Astrid Gorvin) wurde ein kürzerer Ausschnitt aus Doris Lessings Band »Ein Kind der Liebe« vorgestellt. Erzählt wird darin von zwei befreundeten Ehefrauen, die sich aus enttäuschten Gefühlen zunehmend von ihren Männern entfernen und dadurch einander näherkommen. In späteren Werken wie dem Erzählband »A Man And Two Women« (»Ein alter Mann und zwei Frauen«) hat Doris Lessing stärker das Unterhaltsame betont, wobei sie mit ihrer Lebensweisheit nicht hinter dem Berg hält. Dabei ist ein bleibendes Thema ihrer Werke, ob sie nun in Afrika spielen oder in Europa, die Befreiung der Frau von Unterdrückung, ihre Anerkennung als gleichberechtigtes Wesen in der menschlichen Zivilisation. Den glanzvollen Höhepunkt des Abends bildeten einige Auszüge aus der fast schon der fantastischen Literatur zuzuordnenden Erzählung mit dem auf den ersten Blick seltsamen Titel »Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund«, in der es um die Aufbewahrung des Wissens der gesamten Menschheit geht, seine Deutung für das Heute und die Zukunft und um seinen möglichen Verlust. Hier spürten die Zuhörer, die Fabulierkunst der Autorin, die ständig vom Poetischen ins Philosophische und sogar ins Politische hinüberwechselt und immer wieder mit ganz einfachen, aber wunderschönen Sentenzen die Menschen ans Herz packt wie »Wir leben alle in den Ruinen der Erinnerung« oder »Liebe ist wie das Eis in den Händen von Kindern«. Ihr Credo offenbarte sie ganz zum Schluss: »Ich befasse mich mit dem Verlust. Wie können wir etwas Wertvolles bewahren? Wir wissen ja, dass wir verschwinden. Aber was wird, wenn die großen Kulturen verschwinden?« Am Ende wurde sie aus dem Saal gefragt, ob sich die Art ihres Schreibens über einen so langen Zeitraum verändert habe. Sie antwortete salomonisch: »Es ist nicht die Art des Schreibens, die sich verändert hat - ich habe mich verändert!« - Bekenntnis zur Bewegung des Seins, das ihr um so selbstbewusster von den Lippen kommt, weil sie, w...

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