Thüringen: Armut wird zur Normalität

Rasantes Wachstum der Kinderarmut im Freistaat - Existenzsichernde Arbeit ist einziger Ausweg

  • Peter Liebers
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

Mehr als ein Viertel aller Kinder in Thüringen wächst in Armut auf. Darauf hat am Wochenende eine Fachtagung der Linksfraktion.PDS im Thüringer Landtag aufmerksam gemacht.

Wissenschaftler und Praktiker zeichneten auf der Tagung der Linksfraktion ein erschreckendes Bild der Lebenssituation vieler Kindern im Freistaat. Allein in diesem Jahr wuchs die Zahl der in Armut lebenden Kinder in Thüringen gegenüber 2005 um zehn Prozent. Danach erhalten über 59 300 Kinder unter 15 Jahren Sozialhilfe. Nach Darstellung des Erfurter Soziologen Ronald Lutz ist der Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II) gleichbedeutend mit Armut.
Was das heißt, machte der Erziehungswissenschaftler Roland Merten anhand der offiziellen Regelsätzen deutlich. Danach stehen einem Kind eines Empfängers von ALG II pro Tag beispielsweise nur 27 Cent für Gesundheitspflege, 69 Cent für Bekleidung und 2,62 Euro für Ernährung zur Verfügung. Nach Berechnungen der Gesellschaft für Ernährung ist das weniger als die Hälfte dessen, was für eine vernünftige Ernährung nötig wäre. Die Sozialarbeiterin Carola Hettstedt bestätigte den Befund aus der Arbeit eines offenen Freizeittreffs in Erfurt. Viele Kinder kämen hungrig in die Einrichtung, berichtete sie. Lutz zitierte in diesem Zusammenhang eine Schulärztin aus einem nicht genannten westdeutschen Bundesland, der zufolge dort 80 Prozent der Kinder ohne Frühstück in die Schule kommen. In Gera hat die Volkssolidarität einen Hilfsfonds geschaffen, um armen Kindern in Kindergärten einen Zuschuss zum Essensgeld zu finanzieren, das von ihren Eltern nicht aufgebracht werden kann.

Folge: Falsche Ernährung
Zu den Folgen unzureichender oder dem Geldmangel geschuldeter falscher Ernährung gehöre es, dass inzwischen bereits bei elfjährigen Altersdiabetes diagnostiziert wird, hieß es in Erfurt. Das führe langfristig zu gigantischen Kosten, warnte Lutz. Er wertete es als besonders erschreckend, das Armut inzwischen nicht mehr verdrängt sondern als »Normalität« akzeptiert wird. Dabei werde ignoriert, dass es Kinder aus armen Familien deutlich schwerer ins Gymnasium schaffen, dass ihnen musische Beschäftigungen verschlossen sind und sie bei der Einschulung häufiger als andere Kinder Rückstände in der Sprachentwicklung haben. Vor diesem Hintergrund plädierte er dafür, Kindergärten als »Bildungsinstanz« zu akzeptieren und aufzuwerten. Als weitere mögliche Wege, die Chancen von Kindern armer Familien zu verbessern, bezeichnete er unter anderem Vorschulen, Eltern-Kind-Kurse, Ganztagsschulen und kostenfreie Ferienspiele.
Diese Auffassung deckt sich mit Konzepten der Linksfraktion. Das neue Thüringer Kindertagesstättengesetz und die unsägliche »Familienoffensive« der CDU machten alles noch viel schlimmer, betonte der jugendpolitische Sprecher der Linksfraktion, Matthias Bärwolff. Er plädierte deshalb für eine bedarfsorientierte Kindergrundsicherung, mit der die Kinder aus der Sozialhilfe herausgeholt und ihnen das soziokulturelle Existenzminimum garantiert wird. Das sei gerade in Thüringen besonders dringend, weil der Freistaat zu den Bundesländern mit den niedrigsten Einkommen gehört.

Folge: Verführbarkeit
In einem reichen Industrieland Europas wie Deutschland sei soziale und Bildungsarmut beschämend, betont die Linksfraktion. Der Mediziner Roland Eulitz machte darauf aufmerksam, dass die Probleme armer Eltern vielfach zur Aggressivität gegen die Kinder und bei denen wiederum zu depressiven Situationen führen, die zum Einstieg in Drogen verleiteten. Die Kinder würden auch verführbarer für Extreme. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssten die Eltern die Chance erhalten, sich durch existen...

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