Die Sommer von Nidden

Bei Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung

Kurz vor Mitternacht, wenn die letzte Fähre aus Klaipeda angelegt hat, ist die Nehrung bloß eine dunkle, konturlose Ahnung, ein langer, scheinbar endloser Wald, durch den sich die Chaussee zieht. Nirgendwo Lichter, nur die Scheinwerferkegel der Autos, die schnell ihrem Ziel entgegen hasten. Irgendwann muss man halten und sein Eintrittsgeld entrichten. Danach wieder Wald und Straße und Finsternis, später eine Siedlung, Juodkrante oder Schwarzort, lang hingestreckt am Haff. Weiter geht's durch die Nacht, bis nach über fünfzig Kilometern das Schild auftaucht: Nida. Nidden, der magische Ort, das Herz der Kurischen Nehrung, ist erreicht. Thomas Mann kam mit dem Dampfboot, das dreieinhalb Stunden übers Haff gefahren war, und er kam im Hellen. Es war später Nachmittag, der 16. Juli 1930, ein Tag, dem die Familie ungeduldig und erwartungsvoll entgegen gesehen hatte. Man würde zum ersten Mal das neue Domizil in Augenschein nehmen, das eben erst fertig gestellte Haus hoch über dem Haff, die Ferienunterkunft, an die vor einem Jahr noch gar nicht zu denken war. Damals, im August 1929, war man mit den jüngsten Kindern in Rauschen gewesen, einem »ziemlich trivialen Ostseebad«, Thomas Mann hatte im Kurhaus, der vornehmsten Herberge, seine Erzählung »Mario und der Zauberer« geschrieben, und hinterher, ehe es nach Königsberg zu einer Lesung ging, war man noch nach Nidden aufgebrochen, zur Kurischen Nehrung, die man bislang nur vom Hörensagen kannte. Er, der seit seiner Jugend nie in die Berge wollte, immer nur ans Meer, war augenblicklich entzückt »von der unbeschreiblichen Eigenart und Schönheit dieser Natur«. Von da an ist er nicht müde geworden, die »eigentümliche Großartigkeit der Dünen-, Heide- und Meereslandschaft« zu rühmen. Sie zeige »oft ein bedrückend melancholisches Gesicht«, räumte er ein, »entschädigt aber durch eine Phantastik und Originalität, die mich ihr tief verbunden hat«. Am 1. Dezember 1931 wird Thomas Mann sogar die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern des Münchner Rotary-Klubs »zur Unterhaltung und Belehrung« die Vorzüge dieser einmaligen Gegend auszumalen. »Die Kurische Nehrung«, erzählt er dann, »ist der schmale Landstreifen zwischen Memel und Königsberg, zwischen dem Kurischen Haff und der Ostsee. Das Haff hat Süßwasser, das auch durch eine kleine Verbindung mit der Ostsee bei Memel nicht beeinträchtigt wird ... Der Landstreifen ist ca. 96 km lang und so schmal, daß man ihn in 20 Minuten oder einer halben Stunde bequem vom Haff zur See überqueren kann. Er ist sandig, waldig und sumpfig.« Seine Worte, räumte Thomas Mann an dieser Stelle ein, könnten kaum eine Vorstellung geben von den Reizen des Landes, deshalb wolle er sich auf Wilhelm von Humboldt berufen, der sagte, »man müsse diese Gegend gesehen haben, wie man Italien oder Spanien gesehen haben müsse«. Auch Katia Mann war überwältigt. Vielleicht hat sie den Einfall gehabt, sich hier anzusiedeln. Schon immer wollten sie ein Sommerhaus haben, möglichst eines an der Ostsee. Fünf Jahre vorher, 1924, hatten die Manns bereits einen ersten Anlauf genommen und ein paar Wochen auf Hiddensee verbracht, aber die Insel kam dann doch nicht in Betracht. Dort residierte würdevoll Gerhart Hauptmann, und für zwei Majestäten war einfach kein Platz. Die Entscheidung fiel, kaum dass sie das schöne Fleckchen Erde entdeckt hatten. Der Sommersitz der Familie würde das ferne Nidden werden, die Ortschaft am äußersten Rand des Landes, weit über tausend Kilometer von München entfernt. Hier oben, »an der wenig zugänglichen Stelle«, herrschte »gottvolle Ruhe«, wie Thomas Mann fand. Nun ging alles sehr schnell. Man pachtete für 99 Jahre ein Stück Land, engagierte eine Baufirma und einen Architekten, und nach einem Jahr war das Haus, finanziert mit einem Teil des Nobelpreisgeldes von 1929, fertig und vollkommen eingerichtet. Nichts fehlte. Man konnte die Tür aufschließen, sich auf die Veranda setzen und das Gefühl haben, »als ob es schon immer so gewesen wäre«. Und dann die Überraschung: Die Familie ging von Bord des Schiffes und sah sich einer jubelnden Menge gegenüber. Volksfeststimmung auf der Kurischen Nehrung. Nidden hatte einen König, und die Einwohner gaben sich alle Mühe, ihm ihre Freude zu zeigen. Viele Jahre danach, 1964, hat Katia erklärt, dieser 16. Juli 1930 gehöre zu ihren »hübschesten Erinnerungen«. »Unser Haus war wohl die erste in Nidden erbaute Privatvilla, ausserdem war der Name Thomas Mann damals schon ziemlich bekannt. Jedenfalls hatte sich fast die gesamte Bevölkerung am Landungssteg versammelt und begrüsste uns aufs herzlichste.« An diesen Sympathien, dieser Verehrung hat sich bis heute nichts geändert. Das Haus am Haff, errichtet auf dem »Schwiegermutterberg« am südlichen Ende des Ortes, wunderbar restauriert und liebevoll gepflegt, ist jetzt Gedenkstätte und kulturelles Zentrum. Pläne dazu gab es schon 1955. Thomas Mann hat von der Initiative, als er zur Schiller-Feier in Weimar weilte, noch erfahren. Seit Juli 1967 für Besucher zugänglich, wurde das Haus 1975, zum 100. Geburtstag des Schriftstellers, mit Geldern, die die Regierung der Litauischen Sowjetrepublik zur Verfügung stellte, gründlich renoviert. Die DDR spendete Bücher, Fotokopien, Schallplatten, Tonbänder. 1995/96 eine weitere Sanierung, gefördert von der Bundesrepublik und bewerkstelligt von einem Architektenteam, das sich streng nach den alten Plänen richtete. Seitdem gibt es in Nidden das Thomas-Mann-Museum, finanziert vom litauischen Staat, und das Thomas-Mann-Kulturzentrum, um das sich ein internationales Kuratorium kümmert. Es ist alles wie damals, als die Manns hier drei Sommer verbrachten, nur dass jetzt hohe Kiefern das dunkelbraune Holzhaus umgeben: das Dach mit Reet gedeckt, der blaue Giebel, darüber die zwei gekreuzten Pferdeköpfe, und auch die große und offene Veranda gibt es noch. In den unteren Räumen, früher Ess- und Schlafzimmer, sind Fotos, Manuskriptblätter, Zeitungsausschnitte, Bücher und ein Abguss der Büste von Gustav Seitz zu sehen, Geschenk der DDR zum 80. Geburtstag des Schriftstellers. Oben, im ersten Stock, das Arbeitszimmer Thomas Manns mit dem Fenster zum Haff, seinem »Italienblick«, mit dem nachgebauten Stuhl und einem großen Foto auf der Staffelei: der Hausherr am Schreibtisch. Hier ist an den Vormittagen, wie üblich, gearbeitet worden: 1930 am zweiten Band der Joseph-Romane, der kräftig gedieh, und an der Rede »Die geistige Situation des Schriftstellers in unserer Zeit«, 1931 wieder am »Joseph« und an der »Ansprache an die Jugend«, 1932 an »Joseph in Ägypten«. Manchmal kamen Gäste, auch Journalisten, die neugierig waren, wo Thomas Mann sich seinen Sommersitz eingerichtet hatte. Ein englischer Zeitungsreporter schrieb von einer »pittoresken, strohbedeckten Villa«, ein Franzose verriet, ihn habe »der angstvolle Taumel der weiten russischen Steppen« erfasst. Der beste, der informativste Artikel stand am 15. August 1930 in der Wiener »Neuen Freien Presse« (eine Fotokopie befindet sich unter den Ausstellungsstücken). Nidden sei nicht mehr ein Fischerdorf an der Kurischen Nehrung, heißt es da. »Dieses kleine Nidden... ist heute ein literarischer Begriff ... Im Kramladen sind, zwischen Bücklingskisten und Heringsfässern, die »Buddenbrooks« zu Hauf gestapelt, und jedes Kind im Dorfe vertreibt außer selbstgepflückten Himbeeren und frischen Flundern Thomas-Mann-Photographien.« An einem warmen August-Abend dieses Sommers kommt Nijole Strakauskaite ins Thomas-Mann-Haus, um ihr noch druckfrisches Buch über die Kurische Nehrung vorzustellen. Die Historikerin zieht so viele (vor allem deutsche) Urlauber an, dass sogar Stehplätze auf der Veranda gefragt sind. Es wird ein spannender Ausflug in die Geschichte eines Landstrichs, der geprägt wird von der Ostsee und dem riesigen Haff, das dreimal so groß ist wie der Bodensee, von Sand und Wind. Ein russischer Reisender, der 1814 über die Nehrung fuhr, berichtete, seine Pferde seien bis zum Hals im Sand versunken und sechs Männer hätten über drei Stunden gebraucht, sie zu befreien. »Sehr oft«, schrieb er, »geschehen hier Unglücksfälle; es versinken Menschen, Wagen und Pferde, ohne daß man weiß, wo sie geblieben sind: nur selten wird ein versunkener noch gerettet.« Bis weit ins 19. Jahrhundert war die Nehrung eine Wüstenlandschaft, die man deshalb auch die »litauische Sahara« nannte. Dem Sand fielen Menschen, Wald und Orte zum Opfer. Der Sand begrub die Poststraße ein ums andere Mal. Allein Nidden, 1385 erstmals erwähnt, wurde dreimal zugeweht. Rettung kam erst, als das 20. Jahrhundert angebrochen war und man begann, durch Aufforstung den Sand zu bändigen. Heute hören sich die dramatischen Geschichten von einst wie Gruselmärchen an. Die schöne, asphaltierte Straße führt durch dichte Wälder und herausgeputzte Ortschaften. Die Häuser, auch die alten Fischerkaten mit den blau-weißen Fensterläden und den gekreuzten Pferdeköpfen über den Giebeln, sind vorbildlich hergerichtet, neue Häuser so gebaut, dass sie sich unauffällig und harmonisch ins Gesamtbild fügen. Überall Gartencafés, Restaurants, Bernsteinläden, Blumengärten. Keine hohen Häuser, keine protzigen Hotels. Man war so klug, den Charakter der Gegend zu erhalten. Die Wüste freilich ist immer noch da. Thomas Manns erste Ansichtskarte, geschrieben im Juli 1930 gleich nach der Ankunft, zeigt auf der Vorderseite ein Foto und die Aufschrift: Die Sahara Europas. Handschriftlich fügte er hinzu: »Wieder in Afrika!« Später erzählte er bewundernd von den großen Dünen, nur eine halbe Wegstunde von seinem Haus entfernt, den »ungeheueren Sandwänden«, die man lieber nicht hinaufklettern soll, »denn das Herz wird dabei sehr angestrengt«. »Der Eindruck ist elementarisch und fast beklemmend, weniger wenn man sich auf den Höhen befindet und beide Meere sieht, als in den tiefen eingeschlossenen Gegenden. Alles ist weglos, nur Sand, Sand und Himmel..., und der federnde Boden ist geschmückt mit den Wellenlinien, die der Wind hineinzeichnet.« Die Nidden-Fotos zeigen Thomas Mann am Kamin, bei einer Kutschfahrt oder im Sand unter Kiefern, auf dem Kopf die Kapitänsmütze und umgeben von der Familie. Auch am Strand ist er oft gewesen, und der Strand von Nidden, so leuchtend und makellos sauber noch immer, gehört zu den schönsten Ostseestränden überhaupt. Aber in Badehose zeigte er sich nicht. Zu seinen Pflichten, meinte er, gehöre sein Werk, auch dass er Stellung beziehe zu den politischen Vorgängen, aber nicht, sich »neudeutschem Snobismus« in einer Badehose zu präsentieren. Der dritte und letzte Aufenthalt in Nidden endete am 4. September 1932. Mitten in diesen Sommerwochen war es in Königsberg zu Ausschreitungen der Nazis gekommen, die am 31. Juli bei den Reichstagswahlen starke Stimmengewinne erzielt hatten. Thomas Mann, schockiert von den »blutigen Schandtaten«, schickte daraufhin dem »Berliner Tageblatt« eine Stellungnahme, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: »Das Deutschland, das diesen Namen verdient, hat es satt, endgültig satt, sich tagaus, tagein durch Prahlereien und Drohungen der nationalsozialistischen Presse und durch das halbnärrische Geifern sogenannter Führer, die nach Köpfen, Hängen, Krähenfraß und Nächten der langen Messer schreien ..., die Lebensluft im Vaterland vergiften zu lassen.« Aber schon im nächsten Sommer war es um die Lebensluft endgültig geschehen. Da war auch das Haus in Nidden verloren. 1939, nach dem Anschluss des Memellandes ans Deutsche Reich, wurde es beschlagnahmt und als »Jagdhaus Elch« an Hermann Göring gegeben, der dort allerdings nie wohnte. Dafür hat es Speer mehrmals als Übernachtungsstätte genutzt. Bei Kriegsende war es teilweise zerstört, sollte schon abgerissen werden, ist dann aber 1955 erstmals restauriert worden. Thomas Mann hat das Haus nie mehr gesehen. Nur Elisabeth Mann Borgese, die jüngste Tochter, war vor einigen Jahren, mit Fr...

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