Streit um Eisbilanz an den Polen

Auf Grönland schmelzen Gletscher, in der Antarktis scheint Schneemenge gleich zu bleiben

Noch ist die Frage nicht endgültig zu beantworten, ob das Eis an den Polkappen zu- oder abnimmt, wenn das Klima der Erde generell wärmer wird - schon streiten sich einige Staaten in Erwartung der Folgen um einige derzeit völlig unbedeutende Flecken in polaren Regionen. Längst ist das erwartete Abschmelzen der Eismassen nicht mehr allein eine ökologische, sondern auch eine politische Frage geworden.

Jüngstes Beispiel sind die Auseinandersetzungen zwischen Kanada und Dänemark um die nach dem grönländischen Robbenjäger Hans Hendriksen benannte Insel Hans. Sie liegt zwischen der Nordspitze Grönlands, das zu Dänemark gehört, und der kanadischen Ellesmere-Insel. Es ist nur ein drei Kilometer langer, wenige hundert Meter breiter, von Eis umgebener Felsblock. Trotzdem war das Eiland dem Verteidigungsminister Kanadas Bill Graham eine Landung wert, um Besitzansprüche anzumelden. Worauf Kopenhagen mit einer zornigen Demarche reagierte. Die Spekulationen der Kontrahenten sind nachvollziehbar. Wenn es auf der Erde wärmer wird, sollte das Arktiseis allmählich schmelzen. Dadurch öffnen sich neue Fischgründe, Verkehrswege und vor allem ein Zugang zu vermuteten Öl- und Gasvorkommen. Der Geological Survey der USA schätzt, dass ein Viertel aller noch nicht entdeckten Öl- und Gasreserven in der Arktis liegt. Deshalb ringen die Polarländer um jeden Quadratmeter festen Bodens. Als der Autor 1999 das Glück hatte, an der »Polarstern«-Expedition ARK XV teilzunehmen, wurde etwa 75 Kilometer vor der ostgrönländischen Küste eine graue Fläche gesichtet - eine nur Dezimeter aus dem Meereis herausragende Schotterebene. Die dänische Regierung bekundete sofort höchstes Interesse. In diesem Fall geht es um die Ausweitung der 200-Meilenzone, die einer Nation wirtschaftliche Sonderrechte in Meeresgebieten zuspricht. Sie wird von den äußersten Punkten der Küstenlinie ausgehend berechnet, und wenn plötzlich aufgrund der Eisschmelze eine neue Insel auftaucht, kann auf eine weiter reichende Fläche zugegriffen werden. Wie sieht es nun mit der Vereisung an den Polkappen aus? Über den jüngsten Trend in der Arktis sind sich die Experten weitgehend einig. Wie sich die geografische Ausdehnung der Eiskappe im Arktischen Ozean verringert hat, ist von Satelliten seit langem erfasst worden. Seit 1978 schrumpfte sie um etwa 20 Prozent. Auch die durchschnittliche Dicke des Eises hat abgenommen, nach norwegisch-britischen Messungen mit U-Booten und Satelliten sogar um 30 Prozent. Dass die grönländischen Gletscher an Masse verlieren, haben viele Forscher vor Ort festgestellt. Die Auswertung von Daten, die sich aus der Messung des Schwerefeldes der Erde ergeben, erlaubt jetzt, die punktuellen Beobachtungen zu verallgemeinern und eine Bilanz des auf Grönland insgesamt gespeicherten Eises aufzunehmen. Sie wurden von zwei Satelliten des deutsch-amerikanischen Grace-Experiments gewonnen und in der Online-Ausgabe des Fachjournals »Science« am 10. August dieses Jahres veröffentlicht. Danach ziehen sich vor allem im Südosten Grönlands zahlreiche Gletscher rascher zurück als bisher angenommen. In den letzten anderthalb Jahren des Messzeitraums (April 2002 bis November 2005) war der Massenschwund fast dreimal so groß wie in den zwei Jahren zuvor. Andere Analysen, auf Basis von Radarmessungen, dokumentieren eine Verdoppelung der Eisschmelze zwischen 1996 und 2005. Noch zu Beginn des Jungtertiärs vor 15 Millionen Jahren war der Nordpol eisfrei, wie überhaupt im Verlauf der Erdgeschichte die Vereisung der Pole die Ausnahme war. Sollte der Trend wieder dahin gehen? Noch ist nicht klar, ob die Eisverluste ursächlich mit der globalen Klimaerwärmung zusammenhängen oder eine Folge großräumiger Temperaturschwankungen sind, die auch im letzten Jahrhundert z.B. Grönland betroffen haben. Vor allem kann man sich nicht erklären, warum die Gletscher so schnell abtauen. In der Antarktis ist die Situation diffiziler. Die Ergebnisse verschiedener Studien scheinen sich zu widersprechen. Eine internationale Forschergruppe hat versucht, von Daten aus Eisbohrkernen, meteorologischen Beobachtungen und Modellrechnungen abzuleiten, ob in den letzten 50 Jahren am Südpol mehr, weniger oder etwa gleich viel Schnee gefallen ist. Überraschenderweise kam eine weitere in »Science« (Bd. 313/S. 827) veröffentlichte Studie zu dem Schluss, dass sich die über der Antarktis fallende Schneemenge trotz der (noch moderaten) Erwärmung seit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht verändert hat. »Erwartet worden war eine leichte Zunahme«, erklärte Hans Oerter vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, der die anhand von Firnkernen der EPICA-Bohrung im Dronning-Maud-Land gewonnenen Niederschlagsdaten in die Studie eingerechnet hat. »Die meisten Klimatologen gehen davon aus, dass bei einer globalen Erwärmung in stärkerem Maße Meerwasser verdunstet, was auf dem kalten Kontinent am Südpol zu höheren Niederschlägen führen sollte.« Doch auch, wenn der Schneefall zwischen 1955 und 1990 etwas zunahm, ging er seither offenbar wieder zurück. Messungen mittels Radar von Satelliten aus zeigen für die Ostantarktis in den Jahren 1992 bis 2003 dennoch eine Zunahme der Eismassen, während sie in der Westantarktis dünner werden. Wiederum ließ sich aus Schweremessungen einer anderen Studie (Science Express, 2. März 2006) schließen, dass die Antarktis an Eismasse verloren hat. Die Vorstellungen über die Zu- oder Abnahme des polaren Eises im Süden sind also ziemlich fragwürdig, und es bedarf noch erheblicher Forschungen, um sich über die Niederschlagsbilanz ein klares Bild zu verschaffen. Sollte, wenn sich die Erde global erwärmt, der Schneefall in der Antarktis nicht zunehmen, würde der erwartete Anstieg des Meeresspiegels nicht durch Eiswachstum am Südpol gedäm...

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