Tun, leiden - lernen?
»Die Orestie« am Deutschen Theater Berlin
Auftritt Klytaimestra, nur Slip und BH, an der Hand einen Kanister Theaterblut. Besudelt wird sie gleich an der Holzwand stehen. Verkündet dem Chor, der vom Rang des Deutschen Theaters herab fragt und ruft, den griechischen Sieg über Troja, empfängt bald ihren Mann Agamemnon und die Seherin Kassandra, wird beide erschlagen - Agamemnon, der Blutbäder überstand, eine Wonnestunde in der Badewanne übersteht er nicht. Denn seine Ausfahrt nach Troja war einst an einen göttlichen Preis gebunden: die Tochter Iphigenie zu opfern. Guter Wind gegen das gute Kind. Nun rächt sich die Mutter. Und ihr Sohn Orestes wiederum wird sich an der Mutter rächen. Am Schluss wird das erste demokratische Gericht in Athen eingesetzt, Orestes stellt sich ihm, wird entlastet. Vom Geschlecht der Atriden ist der Fluch genommen.
»Die Orestie« des Aischylos ist ein Juwel an Philosophie, an klagender Poesie, an lehrreichem Schauder. Bei Peter Stein, einst an der Schaubühne, dauerte diese Trilogie (»Agamemnon«, »Choephoren - Die Totenspenderinnen« und »Eumeniden - Die Wohlmeinenden«), ein Tragödienkoloss, über zehn Stunden - Michael Thalheimers Inszenierung (Bühne: Olaf Altmann, Musik: Bert Wrede) bringt es auf knapp zwei. Thalheimer folgt einfach dem Verhängnis, und das bietet stets die kürzesten Wege an.
Wir blicken auf eine zweistufige hellbraune Holzwand, die den Raum bis auf einen schmalen Steg an der Rampe verengt und die Bühne also bis an die Logen geradezu hermetisch abriegelt. Ein eiserner Vorhang aus Holz. Wer die etwa mannshohe Stufe erklimmt, ist im Hause der Atriden. Eine Wand, an der sehr viel Blut klebt und bald noch mehr Blut kleben wird. Ein »Menschenschlachthaus«, befindet Kassandra.
Wenn Klytaimestra an der Wand hockt, friert sie im eigenen Blut. Wenn sie davon spricht, dem heimkehrenden Gatten das Tor zu öffnen, kippt sie sich Büchsenbier in den Slip. Constanze Becker ist eine erschütternd harte, augenblitzende, planbewusste Herrscherin zwischen Grauen und Schönheit. Sie gießt sich den Kanister Theaterblut wie ein großes Einverständnis über den Körper, Einverständnis mit dem Verrohungstribut der Blutrache; sie ist der Mensch, der sich selber entstellt, weil er nicht vergisst, was ihm aufgebürdet wurde - und der von daher weiß, was ihm aufgetragen ist. Ein paar Augenblicke Gelöstheit überstrahlen ihr Gesicht, nachdem Agamemnon sie begehrt und an der Wand im Stehen genommen hatte. Flirtkeck besteht sie auf Berührungen, die Agamemnon (Henning Vogt) unwirsch abweist; Frauenfinger wischt er von sich weg wie Fliegen; mit herabgelassenen Hosen gibt er Heeresbericht. Nach dem Mord stürzt Constanze Becker ihre Gestalt in den erschütterndsten Moment des Abends. Der Chor wirft ihr den Gattenmord vor, und sie schreit den Mutter-Urschrei hinaus: Warum stand ihr niemand bei, als dieser Gatte das Kind Iphigenie zum Opferaltar schleifte? Becker hockt in blutstockender Kreatürlichkeit an der Wand, weltallverloren, ganz ein weinender Ur-Instinkt, ein Wesen in tiergleicher Würde: schreiend, ohne doch eine Sprache zu haben, die das Erfahrene ausdrücken könnte.
Thalheimer erzählt die Geschichte konsequent nackt, erbarmungslos übersichtlich. Er wechselt das Licht, die Gitarrenmusik zirpt, dann aber will sie Herzrhythmen geradezu aufputschen. Psychologie - wo sich die Inszenierung denn auf den einzelnen Menschen besinnt - ist nur ein kurzzeitiges, aber jedes Mal brennend starkes Aufglühen. Katharina Schmalenberg als Kassandra: Wenn sie unten vor Klytaimestras Haus steht, schlingt die, oben auf dem Wandvorsprung sitzend, ihre Beine um den Mädchenhals, eine Tötungsübung. Eine offne Maultrommel der Mund der Schmalenberg, wenn die Prophezeiungen aus ihr herausschlagen; ein kleines, schmächtiges Wesen, das von seiner Gabe, Zukunft zu sehen, jedes Mal wie eine Unschuldige überfallen wird; fast etwas Gütiges bekommt sie, einen Hauch von endlich gelingendem Leben, wenn sie kurz vorm Tode die eigene Zunge abgebissen, weggeworfen hat. Michael Gerber ist ein im Siegesbericht herrlich unheroisch schlurfender Bote und dann eine just in größten Wirren mit stoischer Betriebsamkeit triumphierende Amme, Lotte Ohm als Elektra drängt Orestes zum Vatermord, und Michael Benthin ist Aigisthos, der neue Mann der Klytaimestra: ein psychisch und physisch Deformierter, entkommen einer Kindheit, die zu viele Morde sah, er hat die Welt nicht überlebt, in der er lebt.
Der resolute oder flüsternde, zum Einflüstern neigende Chor (Leitung: Marcus Crome) ist der große Lehrer. Gelehrt wird, immer wieder ein einziger Satz: »Tun, leiden, lernen!« Tun, um das Leiden zu lernen. Geschichte als ewige Geburtsstunde von - Blut. Es tritt aus dem Menschen aus, wie man aus einer Bewegung austritt, für deren Sinn einem plötzlich jedes Verständnis fehlt. Blut: dies Einzige, für das der Mensch wirklich offen ist, wenn er sich vorwärtsstirbt in jeweils neue Zeiten. Man kommt blutig zur Welt, man verlässt sie als Blutbündel. Im Anfang wird das Ende geboren. Die griechische Antike bei Thalheimer: schon der Aufbruch als Abgesang; der Rückblick als Aufhilfe zur tröstenden Ernüchterung: Man hätte es, durch alle Illusionsschleier von Frieden und Demokratie hindurch, beizeiten wissen müssen. Thalheimer bindet dem Drama einen Schlips um den Hals, und alle Zeiten sind heute. Er zieht dem Schauspiel Anzüge an, und schon ist es verbeamtet. Die Zigarette im Maul macht hohe Texte zu Asche. Thalheimer fördert nicht Vergangenheit zutage, sondern Verlassenheit. Im hellen Zwielicht der Zeit steht alles für Wiederholungen bereit. Von tieferer Dauer als jedes Ganze, jedes Große sind dessen blutige Reste.
Wahrscheinlich ist es das Übelste, was wir von der Geschichte haben: der Enthusiasmus, den sie immer dort erregt, wo jemand meint, sie sei tatsächlich Lernstoff. Es ist aber dieser Enthusiasmus, der daran hindert, aus ihr zu lernen. Enthusiasmus ist Bequemlichkeit. Gäbe man diese Faulheit auf, könnte man sehr wohl aus der Geschichte lernen. Und erführe freilich nur, dass wir nichts lernen - wollen. Wäre es anders: Die zurückliegenden Jahrtausende waren reichlich Zeit genug, um mit uns selber andere Erfahrungen zu machen als jene, die ein Theater ermöglichen, wie es Thalheimer entwirft.
Alles Gleichnis wirft sich auf Orestes, der verdammt bleibt zu Ortlosigkeit und furchtbarer Dauer: ewig gepeinigt, ewig ein schlaflos Rasender, ewig in den Mythos verbannt. Der Mythos ist ein Zuchthaus, in dem es die Begnadigung, wieder Mensch sein zu dürfen, nicht gibt. Den Palast betritt dieser Orestes (Stefan Konarske) wie ein schmierig-schwitziger Pennäler, feuchte Hände ahnt man, die nasse Hose sieht man. Der Mensch als Held? Das ist eine Erfindung, die sich Notlagen verdankt. Aber täusche sich niemand in dem, was aus Krümmlingen werden kann.
Orestes hockt am Ende so, wie seine Mutter in ihrer unglücklichsten Einsamkeit hockte. Er ist kein Lebender, er ist nur ein Untoter, »hier bleibe ich und warte auf den Ausgang«. Mit diesem Satz ist er irgendwie doch angekommen im Menschsein. Leben heißt: auf den Ausgang warten, sich vorlügen, es werde ein glücklicher Ausgang sein. Orestes hat getan, er hat gelitten, er hat gelernt: dass es weiter zu leiden gilt, auch wenn er gar nichts mehr tut. Er ruft Athene, aber diese Göttin, Zeus' Tochter, taucht bei Thalheimer nicht auf. Athene, die in jenem Schwurgericht der Bürger Athens mitstimmt, das die Kette der Blutrache zerbricht. Athene spricht den Muttermörder Orestes frei. Bürgerliches Recht wird an die Götter gebunden, also bindet dieses Recht auch die Götter. Das ist Aischylos' Provokation. Er nimmt den Menschen in Schutz, wo ihn Thalheimer wieder radikal schutzlos macht. Er lässt in Orestes einen zurück, der Hilfe suchend nach oben schaut, aber da ist nur ein Oben, keine Hilfe.
Orestes verbirgt verzweifelt sein Gesicht, die Toten aber auf dieser Bühne, die starren uns an. Und Agamemnon, lang erschlagen, kriecht unendlich langsam von links nach rechts, als zöge er die Blutspur durch die Jahrhunderte. Noch einmal berührt Orestes den toten Vater, das ist blanke Elektrizität, und er schreit. Gelbes Licht erhellt den Zuschauerraum, als sei der Abend ein Morgen, es ist ein Licht, das die Welt ausbrennt; offen alle Seitentüren. Die Mitte sei das Beste, sagt Orestes, der in den Extremen lebt, und im Publikum wird gelacht. Das Publikum ist weitgehend neue Mitte und lacht hoffentlich über sich selbst. Über ein Dutzend mal ruft der Chor das letztgültige Urteil, das noch lächerlicher, noch schauerlicher ist: »Frieden für immer!...
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