»Sibylle« war DDR

Ein Kriminalfilm als Reflexion über einen Kriminalfilm: der Polizeiruf »Kreise«

  • Matthias Dell
  • Lesedauer: 4 Min.
Der ARD-Sonntagabendkrimi ist der letztmögliche Ausflug in die Fiktion. Auf den grauen Alltag bereitet dann Günther Jauch vor, dessen Stuhlkreis schon an die standardisierte Performance der montäglichen Teambesprechung erinnert.

Für die ewige Angestellte respektive den freiwilligen Selbstausbeuter stellt sich die Sache mit Kunst und Leben ungefähr so dar: Werktags ist wie Realität, das Wochenende die Fiktion. Der ARD-Sonntagabendkrimi ist in diesem Zeitplan der letztmögliche Ausflug in die Fiktion. Auf den grauen Alltag bereitet dann Günther Jauch vor, dessen Problemdiskussionsstuhlkreis schon an die standardisierte Performance der montäglichen Teambesprechung erinnert.

Genau genommen endet das Wochenende, also die Fiktion, aber schon etwas früher, nämlich beim Abspann vom ARD-Sonntagabendkrimi, der einen aus den Träumen auffahren lässt wie der Wecker am nächsten Morgen. Diesmal ist es besonders arg, weil der »Polizeiruf 110: Kreise« (BR-Redaktion: Cornelia Ackers) den Siebziger-Jahre-Schmachtfetzen »I'm not in love« von 10cc in Dauer-Repeat spielt. Man hört ihn am Anfang zu den sehr schönen Bildern (Kamera: Hans Fromm), die der Lichtkegel eines Autos wirft auf die – wie aus den Gassen einer Bühne hervortretenden – Stricher einer tschechischen Ausfallstraße. Man hört ihn mittendrin, von Peter Michael »Herr« Brauer auf der hauseigenen Musikbox aufgelegt. Und man hört ihn eben am Ende, wenn rausgefunden und überführt ist, und im Kontrast zu dem hemmungslosen Synthie-Geschwelge im Männer-Liebeskummer, der ostentativ negiert werden muss, wirkt die günstig zusammengenerierte »Polizeiruf«-Titelmusik dann doch etwas güntherjauchhaft (Eine medienarchäologisch wertvolle Zusammenstellung aller »Polizeiruf«-Titelmusiken und Vorspänne findet sich auf Youtube, 1971 bis 1993 und 1993 bis heute).

»Kreise« ist der erste ARD-Sonntagabendkrimi von Christian Petzold (der zweite, heißt es, ist schon verabredet), dessen Kinofilme von »Die innere Sicherheit« (2000) bis »Phoenix« (2014) wohl am prägnantesten die Idee eines deutschen Autorenkinos vermitteln. Dazu gehört ein Reduktionismus, etwa was das Spiel der Darsteller betrifft. Der zeigt sich hier an Justus von Dohnanyi, der in den Männerliebeskummerklamotten des deutschen Kinos den schwul-durchemotionalisierten Gute-Laune-Bär spielt, von dessen Gefühlen sich die mit ihren Frauen unglücklichen Heterosexuellen eine Scheibe abschneiden können – Justus von Dohnanyi ist als Hauptverdächtiger und Täter hier runtergedimmt wie selten.

Petzold ist ein ungemein kluger Autor und Regisseur und unterhält zu so etwas wie Genre daher immer ein ambivalentes Verhältnis: Er schätzt es und kennt es und würde es doch nie nur bedienen. Bedeutet für »Kreise«, dass das Wer-war-es des Krimis auf stringente Weise abgekürzt wird, indem im Gegensatz zum üblichen Verdächtigenballett hier nur ein suspekter Solist vortanzt, der es dann war (woran man sehen kann, dass Spannung auch so zu organisieren ist). Die Ermittlung, und das ist die Flucht vor den Regeln des Genres, geht dabei nur nebenher um Alibis und Indizien – hauptsächlich handelt sie von tollen Interpretationen der Kunst.

Also wie Brauer diesen ausgedachten Depardieu-Film erzählt, in dem der als Möbelfabrikantensohn eine originelle Variante seiner spät erkannten Verantwortung als Unternehmer entdeckt. Oder wie auf die Feststellung, dass es in der Regel zwei Konkurrenzunternehmen gäbe, von denen das eine vom anderen nur um eine gewisse Zeit überlebt wird, als Beispiel doch ziemlich böse gesagt wird: »So wie DDR und BRD«. Eigentlich ist dieser »Polizeiruf« nur ein Vorwand, um einen spezifischen Blick auf Kultur (vor allem: auf die der alten Bundesrepublik) zu teilen, auf etwas, das Christian Petzold gesehen hat. Das kippt, auch wenn es melancholisch getrübt ist (»Ich hatte Märklin«) nie ins Kulturpessimistische, weil das Interesse an kulturellem Ausdruck, an Geschichten, die man damit erzählen kann, zu groß ist. Nur manchmal kann man spüren, dass im dauernden Auf-etwas-deuten naturgemäß eine gewisse Naseweishaftigkeit steckt – wenn kurz hintereinander der »einzige Pförtner in Deutschland, der klassische Musik hört« und »der einzige Makler in Deutschland, der nicht korrupt ist« aufgeboten werden.

»Kreise« ist ein Kriminalfilm als Reflektion über einen Kriminalfilm, der man gebannt zuhört. Und die sich dabei selbst zuschaut, so wie Barbara Auer als Instant-Kollegin von Matthias Brandts merveillösem Meuffels, die Verhöre, die in Wahrheit Gespräche sind, wie einen Stream guckt auf dem Laptop. Immer wieder zoomt der »Polizeiruf« auf das erzählerische Motiv vom Modell, an dem der gestaltungswillige Brauer mit seiner Eisenbahn baut, um einer Idee von Gemeinheit zu entkommen, aus der ihn seine Originalität nie gänzlich führt.

Der wichtigste Satz dieses Films ist deshalb die Selbstbeschreibung des Künstlers Brauer: »Ich suche nach Möglichkeiten.« Für den Autoren/Regisseur ist das, ganz konkret, der Raum zwischen den Routinen der Ermittlung, den er mit Erzählung füllen kann. Man muss sich Christian Petzold als Brauer vorstellen – als einen Filmemacher, der keinen »Polizeiruf« als »Polizeiruf« drehen will und am Ende doch froh ist, wenn man ihn dabei entdeckt.

Eine Frage, mit der man sich auf Stehempfängen interessant machen kann:
»Wann öffnet eigentlich die Chiquita-Bar?«

Eine unbekannte Fußnote der Literaturgeschichte, die von der Forschung noch erfasst werden sollte:
»Werfel sprang um die beiden herum«

Ein Satz, der aus Kollegen Freunde macht:
»Die große Liebe ist etwas, was ich zur Zeit überhaupt nicht gebrauchen kann«

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