Was hingegen ist die Hölle?

Shigeni Ideguchi, ein Überlebender des 6. August 1945, berichtet und klagt an

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 3 Min.

Was sind die grausig fantasievollen Schilderungen, die sich in der Weltliteratur über die Hölle finden, gegen diesen Bericht eines Überlebenden des Atombombenangriffs auf Hiroshima? Shigemi Ideguchi, geboren 1919, war Offizier und Kompanieführer in der japanischen Armee, stationiert in einer Kaserne der Stadt, die seit jenem sechsten Augusttag im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges für alle Zeiten einen Platz in der Weltgeschichte besetzt. Ein Jahr nach dem unvorstellbaren Erleben hat er, in die Form eines Tagebuches gefasst, seine Erinnerungen an zwanzig Tage zwischen dem 6. August und dem 6. September rekapituliert.

Seine Aufzeichnungen ließ Ideguchi Jahrzehnte liegen. Erst 1989 entschloss er sich, sie zu veröffentlichen. Seitdem ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Nun hat seine Enkelin, von Helfern unterstützt, die deutsche Übersetzung besorgt. Aus Anlass des 70. Jahrestages des Bombenabwurfs kam das Buch auf den Markt.

Was den Lesern auf den Seiten des schmalen Bandes erwartet, übertrifft selbst Vorahnungen von Kennern der »Materie«. Da begegnen sie einem jungen Mann, der nur mit einer Hose bekleidet, mit freiem Oberkörper und barfüßig bei glühender Hitze durch Berge von Leichen und menschlichen Körperteilen taumelt, in einer Trümmerwüste entsetzlich entstellten Menschen begegnet, die wie er ziellos umherirren. Wohin? Wozu? Das wissen sie nicht. Und keiner der Überlebenden weiß, wie viele Stunden er noch am Leben sein wird.

Kaum wieder bei Sinnen kehrt Ideguchi in den Kasernenkomplex zurück, um nach seinen Kameraden zu sehen. Auch hier findet er nur noch Leichen und Knochen. Er wird in ein Krankenhaus außerhalb der Stadt verfrachtet. Nach kaum mehr als zwei Wochen meldet er sich wieder bei seiner Einheit. Da ist der Krieg zu Ende.

Der Bericht hat einen Anhang. In ihm stellt sich Ideguchi Fragen, die so oder ähnlich vor und nach ihm ungezählte Menschen in vielen Länden sich stellten. Warum haben die US-Amerikaner die Bombe geworfen, da Japan doch militärisch zu Boden geworfen war und sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte? Ideguchi vermutet: Nicht um den Krieg zu beenden, sondern um die neue Waffe auszuprobieren, nicht allein auf einem Versuchsfeld, sondern an »lebenden Objekten«. Und um Überlegenheit zu demonstrieren. Es sei dies ein Kriegsverbrechen gewesen, urteilt er, das von und vor der Weltöffentlichkeit als solches endlich anerkannt und verurteilt werden müsse.

Die Opfer wollen im eigenen Lande und von der eigenen Regierung als eine speziell zu umsorgende Gruppe anerkannt werden. Der Autor selbst hat sich maßgeblich an deren Organisationen beteiligt, um zu erreichen, dass der japanische Staat ihnen angemessene materielle und andere Lebenshilfen zuteil werden lässt. Sein Bericht darüber, wie er beim Premier und dem Unterhauspräsidenten mit abgefertigt wurde, gibt Einblick ins Nachkriegsjapan. Warum geschah ihm das? Weil die USA über die Folge des Abwurfs nicht reden wollten, und Japan demütig folgte.

Eine vom Autor geschilderte Szene fordert einen Vergleich zwischen Deutschen und Japanern zu Kriegsende heraus: Das Zimmer des Militärkrankenhauses, in dem sich Ideguchi mit seinen Kameraden befindet, betritt am 15. August ein Militärarzt, verzweifelt und weinend. Er teilt seinen Patienten mit, Japan habe kapituliert. »Getroffen von dieser Nachricht weinten alle, auch ich«, gesteht der Autor. Und: »Ich verlor meinen letzten Halt.« Erst später beschleicht ihn der Gedanke, ob er sich durch dieses Kriegsende nicht auch befreit fühlen könne und müsse, und kommt sich darob sogleich vor wie ein Verräter an der Heimat.

Shigeni Ideguchi: Singvögel und Raben waren auch nicht mehr da. Bericht aus dem Zentrum der Atombombenexplosion. A. d. Japan. v. Rima Ideguchi u. Fabian Liedtke. Hentrich & Hentrich, Berlin 2015. 120 S., geb., 14,90 €.

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