Das Urteil gegen Mulka & Co.

Vor 50 Jahren ging in Frankfurt am Main ein Jahrhundertprozess zu Ende

  • Conrad Taler
  • Lesedauer: 7 Min.

Dieser 19. August 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, und auf dem Schulhof neben dem Gallushaus lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist - der Auschwitzprozess.

Die Vorhänge an den wandhohen Fenstern des Verhandlungssaales im Gallushaus sind zugezogen, als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die 20 verbliebenen Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.

Die Angeklagten werden hereingeführt; als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der »schwarze Tod« von Auschwitz, Wilhelm Boger , trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, während er sich auf seinem Platz niederlässt. Es reicht noch zu einem kurzem Gespräch mit den Verteidigern, dann betreten die Richter den Saal. Die Anwesenden erheben sich und wie an den 181 Tagen davor hören sie aus dem Mund des Gerichtsvorsitzenden Hofmeyer die beiden Sätze: »Die Sitzung des Schwurgerichts beim Landgericht in Frankfurt am Main ist eröffnet. Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.«

Sekunden später ist alles anders. Bleischwer lastet die Stille vor den nächsten Worten in dem großen Raum. »Es wird folgendes Urteil verkündet: Im Namen des Volkes ...« Als erster hört Robert Mulka, dass er für schuldig befunden wurde und zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten. Unterdessen stürzen die ersten Journalisten aus dem Saal hinaus an die Telefone und Fernschreiber. Wenig später künden bei Rundfunkstationen und Zeitungen Klingelzeichen an den Fernschreibern Vorrang- und Eilmeldungen an.

Sechs Mal lebenslanges Zuchthaus, elf Mal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren und drei Mal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses.

Ehe der Vorsitzende jedes einzelne Urteil begründet - insgesamt vergehen darüber zwei Tage - gibt er einen Überblick über alle Argumente und Gegenargumente, die während der vergangenen 20 Monate angeführt worden sind. Es sei verständlich, sagt er, dass in dieses Verfahren der Wunsch hineingetragen worden sei, die Grundlagen zu einer umfassenden geschichtlichen Darstellung des Zeitgeschehens zu schaffen, das zur Katastrophe von Auschwitz geführt habe. Hofmeyer deutet an, dass diesem Verlangen durch zahlreiche Gutachten über das Bild der geistigen, politischen und rechtsphilosophischen Situation während des »Dritten Reiches« Rechnung getragen worden sei. Gleichzeitig betont er jedoch, dass sich das Gericht durch die Vielzahl der daraus resultierenden Fragen nicht habe in Versuchung bringen lassen dürfen, den ihm vom Gesetz vorgeschriebenen Weg zu verlassen und sich auf Gebiete zu begeben, die ihm verschlossen seien. In den Strafverfahren gegen Mulka und andere habe es einzig darum gehen können, die Anschuldigungen gegen die 20 Angeklagten zu überprüfen und das Maß der Schuld des einzelnen zu erforschen.

»Das Gericht war nicht berufen, die Vergangenheit zu bewältigen«, fährt der Vorsitzende fort. »Es hatte nicht zu prüfen, ob dieser Prozess zweckmäßig war oder nicht. Das Schwurgericht konnte nicht einen politischen Prozess führen, schon gar nicht einen Schauprozess. Ich muss in diesem Zusammenhang mein Bedauern darüber aussprechen, dass dieses Wort überhaupt gefallen ist.«

Anschließend setzt Hofmeyer sich mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die »kleinen Leute« vor Gericht gestanden hätten. Auch diese seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen in Auschwitz auszuführen. Sie seien so nötig gewesen, wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Als irrig bezeichnet der Vorsitzende die Auffassung mancher Verteidiger, der Staat könne nicht bestrafen, was er in einer anderen Geschichtsphase befohlen habe. Seit Bestehen des Deutschen Reiches, also seit 1871, hätten die Strafgesetze Mord immer unter Strafe gestellt. Auch die Machtfülle des Nationalsozialismus habe niemals ausgereicht, aus Unrecht Recht zu machen

Bei der Würdigung der Zeugenaussagen kommt Hofmeyer zu dem Ergebnis, dass jeder Mensch nach 20 Jahren Erinnerungsschwächen unterworfen sei. Deshalb habe das Gericht alles vermieden, was auch nur im entferntesten auf eine summarische Entscheidung hätte hindeuten können. Jede Aussage sei einzeln geprüft worden, und wenn eine nicht ganz stichhaltig gewesen sei, dann habe zugunsten des Angeklagten auf sie verzichtet werden müssen. Wegen der Beweisschwierigkeiten hätten nicht alle strafbaren Handlungen nachgewiesen werden können. Den Angeklagten wirft der Senatspräsident vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben. Im letzten Satz der Urteilsbegründung findet sich ein Anflug von Resignation. Er besagt: die vorhandenen Gesetze reichen nicht aus, um die Verbrechen von Auschwitz zu sühnen. Wörtlich: »Selbst wenn in allen Fällen die Angeklagten wegen Mittäterschaft zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt würden, würde eine Division dieser Strafe durch die Anzahl der Opfer niemals auch nur zu einer annähernd gerechten Sühne führen; dazu ist ein Menschenleben viel zu kurz.«

Die Angeklagten nehmen das Urteil ohne Zeichen einer Gemütsregung entgegen. Nur der »Phenolspezialist« Josef Klehr springt auf und ruft in den Saal: »Herr Präsident, ich nehme das Urteil nicht an.« Die Angeklagten hatten geraume Zeit vor der Urteilsverkündung Gelegenheit, Erklärungen zum Prozessverlauf abzugeben. Nur zwei von ihnen, Hans Stark und Franz Lucas, ließen in ihrem Schlusswort einen Schimmer von Reue erkennen. Alle anderen verloren weder ein Wort des Bedauerns für die Opfer von Auschwitz, noch gaben sie auch nur ein einziges Verbrechen zu. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Mulka drohte bei seinem Schlusswort fast in Tränen auszubrechen, während Boger den strammen Antikommunisten hervorkehrte und versicherte, im Mittelpunkt seiner Bestrebungen habe stets die Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung und des Bolschewismus gestanden. Bei den Tötungshandlungen, deren die Angeklagten für schuldig befunden wurden, handelt es sich um so genannte individuelle Morde durch Tottrampeln, Ertränken, Erschießen oder sonstige Gewaltanwendung, um Massenerschießungen an der Schwarzen Wand, um vorausgegangene sogenannte Bunkerentleerungen, um Mord mit der Phenolspritze, um Selektionen auf der Rampe oder Morde in den Gaskammern.

Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte ist zu Ende. Es erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage, 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen stammen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18 000 Seiten. Das Echo auf die Urteile ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen; den einen sind die meisten Strafen zu gering, den anderen erscheinen sie als gerecht.

Für die Verbrechen von Auschwitz gibt es keine adäquate Sühne. Selbst wenn alle Angeklagten die Höchststrafe bekommen hätten - lebenslanges Zuchthaus - bestünde das Unbehagen weiter, dass Auschwitz letztlich ungesühnt bleibt. Das Gericht stand vor einer unlösbaren Aufgabe. Es musste mit den unzureichenden Mitteln des Strafgesetzbuches aus einem Riesenberg von Schuld den persönlichen Anteil der Angeklagten an den begangenen Verbrechen herausfinden. Dabei sind, so will mir scheinen, die höheren Chargen besser weggekommen als die unteren. Der ehemalige SS-Führer Dr. Lucas beispielsweise erhielt wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 4000 Fällen nur drei Jahre und drei Monate Zuchthaus, während der ehemalige Arrestaufseher Schlage wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 80 Fällen sechs Jahre Zuchthaus bekam, also fast doppelt so viel.

Aber solche Überlegungen führen wohl am Kern vorbei. So notwendig es gewesen wäre, gegen alle Angeklagten mit der ganzen Strenge des Gesetzes vorzugehen, so wenig hätte damit das Sühnebedürfnis befriedigt werden können. Trotz der milden Urteile hatte das Verfahren ein Gutes: Es konfrontierte die Nachwelt mit ihrer Vergangenheit. Der Jugend war vor Augen geführt, wo es endet, wenn politischer und völkischer Wahnwitz ins Kraut schießen. Sie ist gewarnt.

Von unserem Autor, der als Journalist den Jahrhundertprozess verfolgt hatte, erschien bei PapyRossa »Asche auf vereisten Wegen. Berichte vom Auschwitz-Prozess«, 171 S., br., 13,80 €.

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