Labor Griechenland

Detlef Hartmann über den Zusammenhang zwischen einem neuen Produktionsregime und der Zerschlagung von Wirtschaft und Sozialwesen

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Regierung Tsipras hat ein halbes Jahr lang für bessere Bedingungen in der Schuldenkrise gekämpft. Sie muss nun aber nicht nur wichtige Wahlversprechen brechen, sondern das Parteienbündnis SYRIZA an sich scheint vor der Spaltung zu stehen. Ist Tsipras ein Opfer - oder ein Verräter?

Weder das Eine noch das Andere. Wenn du im Rahmen einer Regierung tätig wirst, ist es sehr schwierig, Kämpfe zu führen, denn du kannst keinen richtigen Druck ausüben. Ich würde das ungern so personalisieren. Tsipras ist, wie SYRIZA überhaupt, als Vermittler in der Auseinandersetzung zwischen den Gläubigern und der griechischen Bevölkerung sowohl Opfer als auch Täter.

Als Hauptgegenspieler der griechischen Regierung auf europäischer Ebene hat sich Finanzminister Wolfgang Schäuble etabliert. Er erscheint wie eine Mischung aus einem rabiaten Mitarbeiter eines Inkasso-Unternehmens, einem General einer Invasionsarmee und der viel zitierten schwäbischen Hausfrau. Was treibt Schäuble an?

Ihn treibt das, was auch Angela Merkel treibt, nämlich möglichst schnell die Vollendung des europäischen Binnenmarkts und des Euro-Raums hinzukriegen. Es hat in Deutschland schon mehrere Anläufe für einen Binnenmarkt unter deutscher Hegemonie gegeben. Es geht um ein Mithalten mit dem riesigen amerikanischen Binnenmarkt und seinen Entwicklungsmöglichkeiten, die dem europäischen Kapital oft zu schaffen machen.

Schäuble war schon 1994 an einem CDU-Papier beteiligt, das ein Kerneuropa der reichen Länder stärken wollte und das auch schon eine »beschränkte Souveränität« der armen Länder ins Spiel brachte. Aber was jetzt passiert, hat doch eine neue Qualität, oder?

Ja. Das liegt aber weniger daran, dass ein Europa der reichen Länder zu Lasten der armen hergestellt werden soll. Hier werden die enormen und gewalttätigen Impulse umgesetzt, die von der US-amerikanischen Erneuerungspolitik wie ein Schock in die ganze Welt ausstrahlen. Seit 1995 lanciert die US-amerikanische Notenbank Fed eine gewaltige Innovationsoffensive, die mit defizitfinanzierter Liquidität gestützt wird. Das wirkt seit langem auch in Europa. Die Agenda 2010 war ein Versuch, diese Innovationsoffensive ins Innere Europas zu übertragen. Nun hat es auch eines der schwächsten Länder getroffen: Griechenland. Es geht um eine Entwertung, um eine Zerstörung der alten Mittelschichten und ganzer Lebensformen. Es geht um eine neue kapitalistische Herrschaft.

Wie hat die Fed das angestellt? Wie sieht der Angriff auf die Mittelschicht - wir könnten auch sagen: auf erreichte Schutzmechanismen der Lohnabhängigen - aus?

Das beschreibe ich detailliert und mit Einblick in alle zugänglichen Fed-Unterlagen in meinem bald erscheinenden Buch mit dem Untertitel »Greenspans endloser Tsunami«. Es ist der erste Band einer Arbeit namens »Krisen - Kämpfe - Kriege«.

Die Fed merkte nach dem Ende der Sowjetunion und der Vereinnahmung Osteuropas in die EU, dass die USA zurückzufallen drohten. Sie merkte aber auch, dass mit den neuen Informationstechnologien, vor allem dem Internet, neue Machtpotenziale entstanden. Diesen Technologien hat sie einen Schub versetzt, der dem ähnelt, mit dem die Alpen durch die alten Mittelgebirge gestoßen sind, und zwar mit Unsummen aus dem Nichts geschaffener Liquidität. Das waren spekulative Prozesse, die alles sprengen, was wir bisher an Entwicklungen des globalen Kapitalismus kennengelernt haben. Sie hat so die Machtpfeiler des amerikanischen Kapitalismus mehr oder weniger neu errichtet - in Silicon Valley und in einer Form, die die alten Produktionsweisen zerstört hat. Diese Offensive wurde noch stärker durch die Geldströme, die vor der Subprime-Krise und danach durch Fed-Präsident Ben Bernanke entfesselt wurden.

In Ihrem Beitrag zum 2011 erschienenen Buch »Krisenlabor Griechenland« schreiben Sie: »Das Kapital hat Griechenland als Terrain für die Forcierung seiner Strategien von Entwertung und Transformation in Europa gewählt.« Es habe auch eine Rolle gespielt, dass es in Griechenland viele Abweichungen vom kapitalistischen Normalzustand gegeben habe, sei es in Form politischer Bewegungen oder von kulturellen Traditionen wie Vetternwirtschaft und Korruption. Wie müssen wir uns das vorstellen, dass sich »das Kapital«, das ja nicht einheitlich ist, ein Land aussucht?

Den Begriff »das Kapital« verwende ich mit Vorsicht. Solche Prozesse vollziehen sich dadurch, dass neue Unternehmen zu dominieren beginnen, die Innovationen lancieren. Diese Akteure müssen Widerstände brechen und die sozialen Verhältnisse so umformen, dass sie eine ihnen förderliche Umgebung darstellen. Die Peripherien sind am weitesten davon entfernt und produzieren deshalb auch die größten Widerstände. Griechenland ist nun das Land, an dem am klarsten gezeigt wird, worum es geht. Es hat Laborcharakter für die kapitalistische Offensive.

Aber wo lokalisieren Sie das, dass bestimmte Akteure sich das Land aussuchen?

Das lokalisiere ich bei den Statthaltern des Kapitals im Euro-Raum. Das war nicht die Fed. Die Akteure, die das alles ins Innere Europas übertragen, sind konfrontiert mit enormen Widerständen und wollen die brechen. Es geht um das, was schon bei der Fed im Zentrum stand: die schöpferische Zerstörung von Gesellschaften. Den Begriff »schöpferische Zerstörung« hat der Ökonom Joseph Schumpeter geprägt, und Ex-Fed-Präsident Alan Greenspan ist Schumpeter-Fan.

Das ist die politische Ebene. Aber am Anfang steht doch das Kapital. Die Investoren wollten Griechenland keine Kredite mehr geben, sie entzogen dem Land das Vertrauen. Das ist doch der erste umgefallene Dominostein, und das war nicht zwangsläufig. Griechenland stand ja nicht wesentlich schlechter da als andere Länder.

Die griechische Wirtschaft stand erheblich schlechter da als die anderer Länder. Griechenland hatte damals schon eine fast bedeutungslose Industrie. Die Exporte sorgen für nur 16 Prozent des Bruttosozialprodukts - das ist der schwächste Wert Europas. Übrigens: 40 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land. Das ist ein sehr hoher Wert, verglichen mit anderen europäischen Ländern. Aus Griechenland ist wenig rauszupressen. Nachdem die Märkte keine griechischen Staatsanleihen mehr wollten, hat 2010/11 die europäische Politik die Regie übernommen und gesagt: Wenn kein Geld mehr locker gemacht wird, um den Prozess in Griechenland voranzutreiben, dann müssen wir einspringen.

Schon in »Krisenlabor Griechenland« zitieren Sie sowohl die Bewertungsagentur Moody’s als auch die Ökonomen Krugman und Soros sowie die »Financial Times« mit Voraussagen von Wirtschaftseinbruch und Deflation in Griechenland. Andererseits haben sich die Wachstumsprognosen des IWF blamiert. War die wirtschaftliche und soziale Katastrophe im Voraus klar, und somit von der Troika gewollt, oder wurde zumindest ein Teil der maßgeblichen Akteure von der Entwicklung überrascht?

Ich glaube, es ist niemand richtig überrascht worden. Griechenland ist ein Labor. Die Vernachlässigung der griechischen Banken, zum Beispiel, die zwischen Mai und Juli zum Zusammenbruch ihres Systems geführt hat, wurde vorher lange diskutiert. Griechenland ist nun das Negativbeispiel, das beispielsweise Italien, Spanien und Portugal, aber auch Frankreich bei ihren Umstrukturierungen Beine machen soll.

Seit längerem gibt es Aufrufe, die von Ökonomen und anderen Intellektuellen unterschrieben werden und die proklamieren, die Griechenland verordnete Politik sei »gescheitert« oder »falsch«. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung gibt seit Jahren Broschüren zu Hintergründen der Griechenland-Krise heraus. In der von April steht: »Die Gläubiger haben permanent die Wirkungen der Sparpolitik unterschätzt.« Sind solche Kritiken naiv, weil sie unterstellen, dass diejenigen, die die Katastrophe erzwungen haben, nicht wussten, was sie da bewirken?

Ich denke, die wussten alle, was sie bewirken. Solche Darstellungen gehen am Kern der Sache, den ich anfangs dargestellt habe, vorbei. Das Hauptziel ist, in Griechenland völlig veränderte Verhältnisse herzustellen. Gleichzeitig soll so derselbe Druck auf die anderen europäischen Volkswirtschaften ausgeübt werden. Der Begriff »gescheitert« ist also fehl am Platz. Es ging nicht darum, die griechische Wirtschaft voll funktionsfähig zu machen. In den erzwungenen Abkommen mit der Troika ist neben den ganzen Deregulierungen auch - und das haben wohl viele Leute übersehen - enthalten, die griechische Wirtschaft stärker in die europäische einzugliedern. Produktive Kerne sollen geschaffen werden, »Cluster« genannt. Es gibt in Griechenland Institutionen im IT-Sektor, die durchaus sozusagen einen »sinnvollen Beitrag« für Europa leisten können. Die alten Sektoren hingegen, die alten Produktionsweisen sollen zerstört und die darin Beschäftigten mehr oder weniger zu Sklaven der Dienstleistungsbranche herabgewürdigt und prekarisiert werden.

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