Die Rückeroberung des Wünschens

Gefängnistheater: »Der Hauptmann von Köpenick« in der JVA Heidering

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Glas und Beton fangen das Licht ein. Aber der Stahl der Türen fängt Menschen. Von weitem wirkt das Hightech-Gefängnis Heidering bei Großbeeren in Brandenburg wie ein Flughafenterminal, der Komfort der 600 Zellen, so sagt man, ist hoch. Von nahem aber ist es wie jedes Gefängnis eine Menschenfalle.

Die Transparenz der Architektur endet an verschlossenen Türen. Darum geht es schließlich im Gefängnis: um Gefangensetzung, Einziehung der simpelsten Form von Freiheit, die darin besteht, eine Tür selbstständig zu öffnen und hindurchzugehen. Der Traum von offenen Türen wächst in solch Abgeschlossenheit. Seltsam, die Schlüssel dieser 2013 eröffneten hochmodernen Justizvollzugsanstalt sind so groß und schwer geblieben wie im 19. Jahrhundert. Kein Wunder, nirgends sonst werden die massiven Türen so oft auf- und zugeschlossen wie in einem Gefängnis. Was im Gefängnis am meisten beansprucht wird, ist darum der Schlüssel, gerade weil sich für die Gefangenen eine Tür nur öffnet, um sofort wieder verschlossen zu werden.

Carl Zuckmayers Stück »Der Hauptmann von Köpenick«, ergänzt um Texte von Gorki, Brecht und Heiner Müller, handelt von der Falle, in die gerät, wer schließlich dann doch, nach Absitzen seiner Strafe, durch das Gefängnistor ins Freie tritt - jedoch als Gezeichneter, als Ausgestoßener. Der Schuster Voigt steht bei Zuckmayer in dieser Situation ohne Pass da - und ohne Pass bekommt er keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung.

Die zehn Schauspieler des Gefängnistheaters aufBruch hier in Heidering kennen diese Ohnmacht den Behörden gegenüber, die unberechenbaren Labyrinthe der Bürokratie. Ein elfter Spieler des Ensembles ist von gestern auf heute aus Deutschland abgeschoben worden - sein Part musste nun von den Mitspielern buchstäblich über Nacht mit übernommen werden. Wer bestimmt, was man ist und wo man sein oder nicht sein darf? Ein Stück Papier.

Das Zuckmayer-Thema ist frappierend frisch geblieben: 1906 drang der Schuster Voigt als falscher Hauptmann ins Rathaus von Köpenick ein. Um endlich zu einem Pass zu kommen, sagt Zuckmayer. Das ist dann der höhere Realismus des Stücks, denn der historische Schuster Voigt begnügte sich damit, viertausend Mark aus Stadtkasse zu requirieren.

Regisseur Peter Atanassow und sein Dramaturg Hans-Dieter Schütt haben eine sehr gegenwärtige Parabel zum Thema individuelles Gerechtigkeitsempfinden contra Legalität entwickelt: eine Collage aus Berliner Liedern und nie alternden Texten über die Ohnmacht des Einzelnen, dem die Türen zum Gesetz verschlossen bleiben, wie von Kafka beschrieben.

Man spielt draußen vor der verschlossenen Tür, innerhalb des ebenfalls verschlossenen Wirtschaftshofes. Fluchtwege stehen hier nur Richtung Himmel offen - oder eben in jene Welt der Imagination, zu der auch »Der Hauptmann von Köpenick« gehört, dem Zuckmayer den Untertitel gab: »Ein deutsches Märchen«. Einige schwarze Podeste, eine Art Treppe, auf der jedoch niemand in die Höhe gelangt, ein Zaun aus Blech und eine Black-Box mit Sichtschlitzen - das muss als Bühne genügen.

Die Spieler: ebenfalls in schwarz, ein Fingerzeig darauf, dass man hier keine folkloristische Unterhaltung betreibt, sondern eine existenzielle Selbstverortung unternimmt. Und die lautet nun einmal: Aus dem Nachtasyl führt der Weg immer nur wieder ins Nachtasyl, bestenfalls. Schlimmstenfalls führt gar kein Weg mehr irgendwohin, erfolgt die endgültige Gefangensetzung im Abseits, umstellt von unsichtbaren Mauern. Das ist der soziale Abstiegs-Albtraum des Mittelstandsbürgers, der sich von Zuckmayers modernem Märchen auch gemeint fühlt.

Aber Schuster Voigt - und das spürt man an der Sympathie, mit der die Spieler der Figur begegnen - ist auch ein Hoffnungsträger, wenn auch aus dem Kellerloch heraus: Ein Selbsthelfer, ein Schalk aus Notwehr gegen ein Leben, das ihn nicht meint. Dieser von der bürgerlichen Verwertungslogik Aussortierte ernennt sich selbst zum Souverän über eine Ordnung, die falsch sein muss, wenn sie ihm jenes Stück Papier vorenthält, das bescheinigt, dass er existiert. »Der Hauptmann von Köpenick« bei Atanassow und Schütt ist ein listiger Anarchist, der die herrschende Ordnung nicht zerstört, sondern unterläuft.

»Die ganze Welt ist ein Zuchthaus«, so klingt es hier durch die Reden hindurch, mal beim Einzelnen oder auch im Chor. Wenn die ganze Welt ein Zuchthaus ist, was für eine Welt ist dann erst ein Zuchthaus? Ein Totenhaus, wie von Dostojewski beschrieben? Dagegen sprechen in Heidering moderner Komfort und die Möglichkeit von Erleichterungen der Haft - nicht zuletzt durchs Theaterspielen. Dafür sprechen die Türen aus Stahl mit den großen Schlüsseln, deren es bedarf, sie dem zu öffnen, den die Gefängnismaschine zurück in den Alltag draußen spuckt. Draußen, das ist da, wo der Schein das Sein bestimmt: »So wie du aussieht, so wirst du auch angesehen.«

Und immer wieder ist man beim aufBruch-Theater von Regisseur Peter Atanassow erstaunt, wie es ihm bei jeder Inszenierung aufs Neue gelingt, die Aggressionen, die zurückgestaute Wut der Gefangenen in darstellerische Ausdruckskraft zu verwandeln. Ist dieser Schuster Voigt als »Hauptmann von Köpenick«, dem es eine Zeit lang gelang, mittels einer Uniform das Gesetz zu narren, nun ein Komödien- oder eher ein Tragödienstoff?

Hier im aufBuch-Theater in der JVA Heidering kann man dies als Zuschauer nur schwer entscheiden. Es hat gewiss etwas Fantastisches, etwas von de Sicas »Wunder von Mailand«, wo sich den Armen plötzlich alle Wünsche erfüllen und sie im maßlosen Wünschen zu Bestien werden, denen man zuschauend die Anteilnahme schließlich verweigert.

Theater spielen jedoch heißt für die Gefangenen den umgekehrten Weg zu gehen: Sich im gemeinsamen Spiel das Wünschen wieder als etwas zu erarbeiten, das man vor falschen Erfüllungen bewahren muss. In diesem Prozess erlangen sie dann zurück, was sie verloren haben: die Interpretationshoheit über ihre eigenen Lage.

Nächste Vorstellungen: 10.-11. und 16.-18.9. jeweils um 18 Uhr. Karten nur mit persönlicher Anmeldung bis spätestens fünf Tage vor der Vorstellung erhältlich. Personalausweis mitbringen! Karten: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

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