Zitate von Stefan Heym

Das Haus Kaiserplatz 13 existiert nicht mehr. In meinem Besitz befindet sich ein Photo von S. H., darauf steht er, in amerikanischer Uniform, vor den Resten seines Geburtshauses, der Vorderwand mit den hohlen Fenstern und den schwärzlich angesengten, ehemals roten Ziegeln. Er steht da breitbeinig, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Kappe schief auf dem Schädel. Ein Sieger?
Ich weiß noch, was ihm durch den Kopf ging. Daß alles ganz anders war als erwartet, und war dies wirklich die Rückkehr, die Rückkehr zu den Wurzeln? Da war nicht nur der Krieg gewesen, der die Bäume auf dem Platz geknickt und das Haus zertrümmert hatte bis hinein in das Souterrain vorn rechts, wo der Schuhmacher Bernhardt immer gesessen hatte unter seiner weißen Glaskugel, die Holzstifte zwischen den Lippen; auch die Proportionen hatten sich verändert, waren geschrumpft. Aber wenn er die Augen schloß, waren sie alle wieder da, die Bilder der Kindheit, die aus ihm unerfindlichen Gründen stets in Sonnenlicht getaucht waren. Also ein glückliches Kind?
Der amerikanische Soldat vor der übriggebliebenen Vorderwand des Hauses Kaiserplatz 13 schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern und geht.
Aus: Nachruf, 1988 
 
Wenn ihr jetzt, da der Krieg beinah vorbei ist, es euch überlegt - wofür habt ihr eigentlich gekämpft? Um ein paar Leuten, die Deutschland seit je ausgebeutet haben, Gelegenheit zu geben, noch weitere Gewinne durch die Ausbeutung ganz Europas einzustecken. Um ein paar Männer an der Macht zu halten, die nun ihre Juwelen und wertvollen Besitztümer verpacken und vor den Russen davonlaufen, die schon auf Berlin vorrücken. Meint ihr, ihr habt für euch selbst gekämpft? Wo ist dann euer Gewinn? Eure Frauen sind tot oder auf der Flucht, oder sie verkriechen sich in Bunkern vor Luftangriffen oder befinden sich bereits in alliiertem Besatzungsgebiet; eure Söhne, Väter und Brüder sind tot, verwundet ..., sie fliehen oder sind schon Gefangene ...; Deutschland ist nur noch ein schmaler Gebietsstreifen, eingeklemmt zwischen den Russen im Osten und den Alliierten im Westen. Welch ein Fehler, daß ihr geglaubt habt, ihr könntet die Welt beherrschen, wo ihr nicht einmal in der Lage wart, euch selber zu regieren! Denkt doch endlich nach!«
Aus: Kreuzfahrer von heute (The Crusaders, 1948) 

Man hat von Mangel an Mut bei Schriftstellern gesprochen. Ich halte das - verzeihen Sie mir - für oberflächlich. Ich glaube, die Mehrzahl von uns sind keine Feiglinge, wir haben keine Angst vor Kritik und vor dem erhobenen Zeigefinger und den erhobenen Augenbrauen großer und kleiner Päpste.
Aber für manchen von uns gibt es manchmal Augenblicke, da wir zaudern angesichts der Tatsache, daß die neue Zeit noch gar so neu und ungewohnt ist, und daß der verschlungene Weg vor uns sich gar zu oft gabelt und kreuzt und überschneidet. Und in solchen Augenblicken mag die Verantwortung, die auf uns liegt, zu schwer erscheinen und die Versuchung, nichts zu sagen und nichtssagend zu werden, tritt an uns heran. Aber wir dürfen dieser Versuchung nicht nachgeben. Ihr nachzugeben hieße unsere Berufung zu verraten und damit gleichzeitig die große Sache.
Aus: Diskussionsbeitrag auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß, Januar 1956 

Worum geht es? Nicht um Devisen oder ähnliches. Es geht um die Literatur. Der Schriftstellerverband ..., dafür ist er eigentlich da, müßte sich auf die Seite derer stellen, die sich bemühen, unsere Welt in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen und verständlich zu machen. Statt dessen läßt er Resolutionen drucken, die dem Apparat bescheinigen, wie recht er hat, gerade diesen Teil der Literatur des Landes zu unterdrücken. Nun mögen gewisse Bücher und Filme tatsächlich nicht zu den gerade aktuellen Zielen und Notwendigkeiten der Politiker passen - genau da liegt ja das Problem. Literatur kann man nicht nach momentanen Gegebenheiten machen ... Wer das nicht sieht, wer die Kunst irgendwelchen taktischen Bedürfnissen unterwerfen will, vernichtet gerade die Kunst, die der Sozialismus braucht.
Aus: Diskussionsbeitrag auf der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR am 7. Juni 1979 

Wenn die Leute sich nicht artikulieren können, dann werden sie Häuser anzünden. Und wenn man ihnen nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen, das ist die ganz große Gefahr, die ich sehe, und diese Gefahr wird dadurch noch vergrößert, daß die entscheidenden Medien zusammen mit der Regierung eine ganz merkwürdige Politik treiben, eine Politik, die darin besteht, daß man den alten ökonomischen Mustern unter allen Umständen folgt - auch wenn diese breiten Teilen der Bevölkerung zum Nachteil gereichen -, solange nur eine gewisse Schicht ihre Profite macht. Das wird auf die Dauer nicht gut gehen ..., damit wird auch die herrschende Schicht Bankrott machen.
Aus: Gespräch mit Stefan Heym. In: Neue deutsche Literatur, Heft 12, 1992 

Die Menschen erwarten von uns hier, daß wir Mittel und Wege suchen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, bezahlbare Wohnungen zu schaffen, der Armut abzuhelfen und, im Zusammenhang damit, Sicherheit auf den Straßen und Plätzen unserer Städte und in den Schulen unserer Kinder zu garantieren und jedermann und jederfrau den Zugang zu Bildung und Kultur zu öffnen - das heißt, die Menschen erwarten, daß wir uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse und der Erhaltung unserer Umwelt beschäftigen. Die Vorstellungen in diesem Hause dazu mögen weit auseinanderklaffen. Lassen sie uns ruhig darüber streiten. Doch in einem werden wir hoffentlich übereinstimmen: Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und Stalinsche Verfahrensweisen sollten für immer aus unserem Lande gebannt sein. Dieser Bundestag wird derlei nicht völlig verhindern können; aber er kann dazu beitragen, ein Klima zu schaffen, in dem Menschen, die solch verfehlten Denkweisen anhängen, der öffentlichen Ächtung verfallen.
All dieses jedoch kann nicht die Angelegenheit nur einer Partei oder einer Fraktion sein. Es ist nicht einmal die Sache eines Parlaments nur, sondern die aller Bürgerinnen und Bürger, West wie Ost. Und wenn wir von diesen moralisches Verhalten verlangen und Großzügigkeit und Toleranz im Umgang miteinander, dann müßten wir wohl, als ihre gewählten Repräsentanten, mit gutem Beispiel vorangehen.
Und just darum plädiere ich dafür, daß die Debatte um die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft Sache einer großen, bisher noch nie dagewesenen Koalition werden muß, einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt.
Aus: Rede zur Eröffnung des 13. Deutschen Bundestages (10. 11. 1994) 

Es obliegt mir nicht zu werten. Ich sammle, ich ordne, ich teile ein, ein bescheidener Diener im Hause des Wissens; ich deute und versuche, die Gestalt der Dinge darzustellen und ihren Lauf zu verzeichnen. Doch das Wort hat sein eigenes Leben: es läßt sich nicht greifen, halten, zügeln, es ist doppeldeutig, es verbirgt und enthüllt, beides; und hinter jeder Zeile lauert Gefahr.
Aus: Der König David Bericht (1973)

Das Haus Kaiserplatz 13 existiert nicht mehr. In meinem Besitz befindet sich ein Photo von S. H., darauf steht er, in amerikanischer Uniform, vor den Resten seines Geburtshauses, der Vorderwand mit den hohlen Fenstern und den schwärzlich angesengten, ehemals roten Ziegeln. Er steht da breitbeinig, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Kappe schief auf dem Schädel. Ein Sieger?
Ich weiß noch, was ihm durch den Kopf ging. Daß alles ganz anders war als erwartet, und war dies wirklich die Rückkehr, die Rückkehr zu den Wurzeln? Da war nicht nur der Krieg gewesen, der die Bäume auf dem Platz geknickt und das Haus zertrümmert hatte bis hinein in das Souterrain vorn rechts, wo der Schuhmacher Bernhardt immer gesessen hatte unter seiner weißen Glaskugel, die Holzstifte zwischen den Lippen; auch die Proportionen hatten sich verändert, waren geschrumpft. Aber wenn er die Augen schloß, waren sie alle wieder da, die Bilder der Kindheit, die aus ihm unerfindlichen Gründen stets in Sonnenlicht getaucht waren. Also ein glückliches Kind?
Der amerikanische Soldat vor der übriggebliebenen Vorderwand des Hauses Kaiserplatz 13 schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern und geht.
Aus: Nachruf, 1988 
 
Wenn ihr jetzt, da der Krieg beinah vorbei ist, es euch überlegt - wofür habt ihr eigentlich gekämpft? Um ein paar Leuten, die Deutschland seit je ausgebeutet haben, Gelegenheit zu geben, noch weitere Gewinne durch die Ausbeutung ganz Europas einzustecken. Um ein paar Männer an der Macht zu halten, die nun ihre Juwelen und wertvollen Besitztümer verpacken und vor den Russen davonlaufen, die schon auf Berlin vorrücken. Meint ihr, ihr habt für euch selbst gekämpft? Wo ist dann euer Gewinn? Eure Frauen sind tot oder auf der Flucht, oder sie verkriechen sich in Bunkern vor Luftangriffen oder befinden sich bereits in alliiertem Besatzungsgebiet; eure Söhne, Väter und Brüder sind tot, verwundet ..., sie fliehen oder sind schon Gefangene ...; Deutschland ist nur noch ein schmaler Gebietsstreifen, eingeklemmt zwischen den Russen im Osten und den Alliierten im Westen. Welch ein Fehler, daß ihr geglaubt habt, ihr könntet die Welt beherrschen, wo ihr nicht einmal in der Lage wart, euch selber zu regieren! Denkt doch endlich nach!«
Aus: Kreuzfahrer von heute (The Crusaders, 1948) 

Man hat von Mangel an Mut bei Schriftstellern gesprochen. Ich halte das - verzeihen Sie mir - für oberflächlich. Ich glaube, die Mehrzahl von uns sind keine Feiglinge, wir haben keine Angst vor Kritik und vor dem erhobenen Zeigefinger und den erhobenen Augenbrauen großer und kleiner Päpste.
Aber für manchen von uns gibt es manchmal Augenblicke, da wir zaudern angesichts der Tatsache, daß die neue Zeit noch gar so neu und ungewohnt ist, und daß der verschlungene Weg vor uns sich gar zu oft gabelt und kreuzt und überschneidet. Und in solchen Augenblicken mag die Verantwortung, die auf uns liegt, zu schwer erscheinen und die Versuchung, nichts zu sagen und nichtssagend zu werden, tritt an uns heran. Aber wir dürfen dieser Versuchung nicht nachgeben. Ihr nachzugeben hieße unsere Berufung zu verraten und damit gleichzeitig die große Sache.
Aus: Diskussionsbeitrag auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß, Januar 1956 

Worum geht es? Nicht um Devisen oder ähnliches. Es geht um die Literatur. Der Schriftstellerverband ..., dafür ist er eigentlich da, müßte sich auf die Seite derer stellen, die sich bemühen, unsere Welt in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen und verständlich zu machen. Statt dessen läßt er Resolutionen drucken, die dem Apparat bescheinigen, wie recht er hat, gerade diesen Teil der Literatur des Landes zu unterdrücken. Nun mögen gewisse Bücher und Filme tatsächlich nicht zu den gerade aktuellen Zielen und Notwendigkeiten der Politiker passen - genau da liegt ja das Problem. Literatur kann man nicht nach momentanen Gegebenheiten machen ... Wer das nicht sieht, wer die Kunst irgendwelchen taktischen Bedürfnissen unterwerfen will, vernichtet gerade die Kunst, die der Sozialismus braucht.
Aus: Diskussionsbeitrag auf der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR am 7. Juni 1979 

Wenn die Leute sich nicht artikulieren können, dann werden sie Häuser anzünden. Und wenn man ihnen nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen, das ist die ganz große Gefahr, die ich sehe, und diese Gefahr wird dadurch noch vergrößert, daß die entscheidenden Medien zusammen mit der Regierung eine ganz merkwürdige Politik treiben, eine Politik, die darin besteht, daß man den alten ökonomischen Mustern unter allen Umständen folgt - auch wenn diese breiten Teilen der Bevölkerung zum Nachteil gereichen -, solange nur eine gewisse Schicht ihre Profite macht. Das wird auf die Dauer nicht gut gehen ..., damit wird auch die herrschende Schicht Bankrott machen.
Aus: Gespräch mit Stefan Heym. In: Neue deutsche Literatur, Heft 12, 1992 

Die Menschen erwarten von uns hier, daß wir Mittel und Wege suchen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, bezahlbare Wohnungen zu schaffen, der Armut abzuhelfen und, im Zusammenhang damit, Sicherheit auf den Straßen und Plätzen unserer Städte und in den Schulen unserer Kinder zu garantieren und jedermann und jederfrau den Zugang zu Bildung und Kultur zu öffnen - das heißt, die Menschen erwarten, daß wir uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse und der Erhaltung unserer Umwelt beschäftigen. Die Vorstellungen in diesem Hause dazu mögen weit auseinanderklaffen. Lassen sie uns ruhig darüber streiten. Doch in einem werden wir hoffentlich übereinstimmen: Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und Stalinsche Verfahrensweisen sollten für immer aus unserem Lande gebannt sein. Dieser Bundestag wird derlei nicht völlig verhindern können; aber er kann dazu beitragen, ein Klima zu schaffen, in dem Menschen, die solch verfehlten Denkweisen anhängen, der öffentlichen Ächtung verfallen.
All dieses jedoch kann nicht die Angelegenheit nur einer Partei oder einer Fraktion sein. Es ist nicht einmal die Sache eines Parlaments nur, sondern die aller Bürgerinnen und Bürger, West wie Ost. Und wenn wir von diesen moralisches Verhalten verlangen und Großzügigkeit und Toleranz im Umgang miteinander, dann müßten wir wohl, als ihre gewählten Repräsentanten, mit gutem Beispiel vorangehen.
Und just darum plädiere ich dafür, daß die Debatte um die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft Sache einer großen, bisher noch nie dagewesenen Koalition werden muß, einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt.
Aus: Rede zur Eröffnung des 13. Deutschen Bundestages (10. 11. 1994) 

Es obliegt mir nicht zu werten. Ich sammle, ich ordne, ich teile ein, ein bescheidener Diener im Hause des Wissens; ich deute und versuche, die Gestalt der Dinge darzustellen und ihren Lauf zu verzeichnen. Doch das Wort hat sein eigenes Leben: es läßt sich nicht greifen, halten, zügeln, es ist doppeldeutig, es verbirgt und enthüllt, beides; und hinter jeder Zeile lauert Gefahr.
Aus: Der König David Bericht (1973)


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