Eine beispiellose Mordorgie

Der Militärputsch in Indonesien 1965 und dessen Lehren für heute

  • Diethelm Weidemann
  • Lesedauer: 7 Min.

Am 30. September 1965 hielt Präsident Sukarno in Djakarta eine Rede vor der Vereinigung indonesischer Techniker, in deren Verlauf er einen Schwächeanfall erlitt. Die Veranstaltung musste unterbrochen werden. In der indonesischen Hauptstadt verbreiteten sich Gerüchte, der Präsident liege im Sterben. Das war der Auslöser für Ereignisse, die zur größten Tragödie in der Geschichte des Inselstaates werden sollten.

Indonesien, die ehemalige Kolonie Niederländisch-Indien, hatte am 17. August 1945 seine Unabhängigkeit proklamiert. Am 2. September 1945 wies der alliierte Oberkommandierende in Südostasien, Lord Louis Mountbatten, die dort 1942 eingefallenen japanischen Besatzungstruppen an, die Republik zu liquidieren. Doch jene waren bereits zu einem großen Teil durch indonesische Einheiten entwaffnet und mehrheitlich auch nicht bereit, der Weisung des britischen Generals zu folgen. Dennoch versuchten London und Den Haag, das niederländische Kolonialsystem wieder zu restaurieren, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Als die Indonesier die Übergabe des Hafens von Surabaya an die Niederlande ablehnten, kam es zu heftigen Kämpfen. Ein britische Ultimatum, binnen 24 Stunden alle Waffen abzugeben, wurde von den Indonesiern als unannehmbar abgelehnt, worauf am 11. November 1945 der erste Kolonialkrieg gegen die Republik Indonesien begann. Ihm folgten bis 1949 noch zwei weitere. Indonesien zahlte einen hohen Blutzoll, erlitt hohe ökonomische Verluste und durchlebte eine äußerst kritische Phase durch die Bildung zahlreicher kleiner Marionettenstaaten auf dem Territorium der Republik. Letztlich aber mussten die Niederländer, nachdem Großbritannien und die USA bereits 1947 ihre Unterstützung eingestellt hatten, im Haager Abkommen vom 2. November 1949 die vollständige Souveränität Indonesiens anerkennen.

Indes, die nationale Einheitsfront der Indonesier erwies sich infolge der Heterogenität als nicht tragfähig. Es kam ständig zu neuen Gruppenbildungen, Machtkämpfe tobten. Schon während der Kolonialkriege hatte sich gezeigt, dass sich die bürgerlichen Kreise um den Vizepräsidenten und ab Mitte 1948 auch Regierungschef Mohammed Hatta an den Westen orientierten und Teile des Offizierskorps extrem nationalistisch agierten. Ihr Ziel war die Entfernung aller Linken und Linksnationalisten aus Staatsapparat und Streitkräften. Ganze Truppenteile wurden entwaffnet und demobilisiert. Nachdem in Surakarta eine Gruppe von Offizieren entführt und ermordet wurde, weigerte sich die vornehmlich aus linken Verbänden bestehende Garnison von Madiun (Ostjava), ihre Waffen abzugeben. Hatta schickte die Division Siliwangi unter Abdul Haris Nasution nach Madiun und ließ ein Blutbad anrichten. Unter dem Vorwand einer »kommunistischen Rebellion« wurden in einer landesweiten Verfolgungswelle Tausende Kommunisten und Linksnationalisten ermordet, unter ihnen fast das gesamte ZK der Partai Komunis Indonesia (PKI). Armee und Staatsorgane wurden vollständig von allen Linken »gesäubert«. Das war das Ende der nationalen Revolution in Indonesien. Madiun war zugleich die »Eintrittskarte« für das rechte Bürgertum Indonesiens, ein Arrangement mit dem Westen zu erlangen.

Was tat Sukarno? Er versuchte in den 1950er Jahren, seine Position durch ein Lavieren zwischen den politischen Fronten und mit betont nationalistischem Populismus zu sichern. Da er im bürgerlichen Lager und bei den Moslemparteien (vor allem Masjumi und Nahdatul Ulema) auf offene Feindseligkeit stieß, stützte er sich zunehmend auf die Armee und die PKI. Diese hatte sich nach Madiun überraschend schnell wieder formiert; auf Grund ihres antikolonialen Kampfes genoss sie großes Ansehen, besonders bei der Intelligenz und der armen Landbevölkerung.

Mit Hilfe der PKI konnte Sukarno 1950, 1952 und 1957/58 erste Putschversuche aus Armeekreisen abwehren. Aber die Lage stabilisierte sich nicht, da Sukarno und seine Partai Nasional Indonesia (PNI) nur auf Java fokussiert waren und die anderen Regionen sträflich vernachlässigten. Dazu kam eine veritable Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrise. Die Unzufriedenheit wuchs in allen Schichten der Bevölkerung. Sukarno geriet zudem wegen seiner pompösen »Hofhaltung« zunehmend in die Kritik. Der Präsident versuchte daher einen »großen Sprung«: Er kündigte den Übergang zu einer »gelenkten Demokratie« an, setzte im Mai 1957 einen von ihm berufenen Nationalrat ein und löste im Juli 1959 die Verfassunggebende Versammlung auf, proklamierte eine nationale Einheitsfront (MANIPOL, NASAKOM) und ließ sich 1963 zum Präsidenten auf Lebenszeit wählen.

Begleitet wurde dieser Kurs durch die Orientierung der Bevölkerung auf den »äußeren Feind«: Alle niederländischen Unternehmen in Indonesien wurden unter staatliche Kon-trolle gestellt (in praxi die Basis der späteren wirtschaftlichen Macht der Armee), hinzu kam der Konflikt mit Malaysia (Konfrontasi) wegen der Fürstentümer Sabah und Sarawak (Nordkalimantan), in dessen Folge Indonesien aus der UNO austrat. Außenpolitisch orientierte sich Sukarno zunehmend auf China.

Als verhängnisvoll erwies sich, dass die PKI Sukarno auf seinem nationalistisch­populistischen Kurs folgte und sich dem von Peking betriebenen Schisma der internationalen kommunistischen Bewegung anschloss. Sie hatte in den 1950er Jahren unter Aidit, Njoto und Njono einen erstaunlichen Aufschwung genommen, gewann bei Parlaments- und Gemeindewahlen sechs bzw. acht Millionen Stimmen und war bald mit 2,3 Millionen Mitgliedern die stärkste politisch organisierte Kraft.

1964/65 befand sich Indonesien in einer akuten innenpolitischen Krisensituation, die wachsende Unzufriedenheit war auch nicht mehr durch außenpolitische Abenteuer zu kanalisieren. Trotz ihrer beherrschenden Stellung war die Armee angesichts des wachsenden Einflusses der PKI aufs höchste beunruhigt. Die Generalität suchte den Kontakt zu rechten Politikern und den seit 1960 verbotenen Moslemparteien. Es formierte sich ein Rat der Generale (Dewan Djenderal), der bereits eine eigene Kabinettsliste mit General Nasution als Premier aufstellte. Im August 1965 wurde die Armee in höchste Bereitschaft versetzt, um bei entsprechendem Anlass »einzugreifen«.

Nicht nur Sukarno unterschätzte die Gefahr, auch die Führung der PKI. Statt die Massen zu mobilisieren, vertraute sie darauf, dass der Präsident alles unter Kontrolle habe - unter völliger Negierung vorheriger blutiger Erfahrungen. Lediglich eine Gruppe linksnationalistischer Offiziere bereitete sich auf einen präventiven Gegenschlag vor. Ihre führenden Köpfe waren Brigadegeneral Supardjo, der Kommandeur der Präsidentengarde (Regiment Tjakrabirawa) Oberstleutnant Untung sowie Oberst Latief.

Die Armeeführung hatte für den 5. Oktober 1965 zur Feier des 20. Jahrestages der Gründung der Tentara Nasional Indonesia (TNI), der indonesischen Streitkräfte, 20 000 Soldaten nach Djakarta beordert. Die linksnationalistischen Verschwörer gerieten in Panik. Als nun am 30. September die Gerüchte von Sukarnos Zusammenbruch umliefen, befürchteten sie eine sofortige Machtübernahme durch den Rat der Generale und schlugen ohne Koordinierung und Kontakt mit anderen Regionen, Armee-Einheiten und politischen Parteien los. Sie riegelten den Präsidentenpalast und andere Regierungsgebäude ab. Drei hohe Generale wurden bei Schusswechseln getötet, drei weitere nach ihrer Verhaftung in Halim, einem Stützpunkt zur militärischen Ausbildung, von fanatisierten Kursanten erschlagen und in einen Brunnen geworfen. Dieses völlig sinnlose Verbrechen lieferte der Armee den Anlass zum lange geplanten Schlag gegen die linken Kräfte. Die »Bewegung des 30. September« gab eine Rundfunkerklärung ab: Sukarno stünde unter ihrem Schutz und es würde ein Revolutionskomitee gebildet. Der Präsident stellte sich jedoch nicht wie erwartet an die Spitze der Bewegung, auch gab er keine Erklärung an die Nation ab. Die PKI blieb ebenso völlig untätig.

Auf der Gegenseite hatte inzwischen der bislang unbekannte General Suharto die Sicherungseinheiten der Verschwörer zum Abzug bewogen. Am Abend des 1. Oktober 1965 war die Hauptstadt kampflos unter Kontrolle der Armee. Am Folgetag nahm Suharto Kontakt zu den rechten politischen Kräften und den Moslem-Organisationen auf und forderte eine nationale Aktionsfront gegen den »kommunistischen« Putsch. Das war der Auslöser einer präzedenzlosen Woge antikommunistischer Hysterie und eines massenhaften Amoklaufs. Allein in Djokjakarta wurden in wenigen Tagen 15 000 Menschen ermordet, auf Bali waren es 70 000. Realistische Quellen sprechen von insgesamt 300 000 bis 500 000 Toten. Die PKI, linke Gewerkschaften und linke Bauernorganisationen wie auch die linke Intelligenz wurden in einer Mordorgie ausgelöscht. Auch gegen die chinesische Bevölkerung richtete sich die inszenierte »Volkswut«.

Am 11. März 1966 zwang Suharto den Präsidenten, ihm die Regierungsvollmacht zu erteilen. Nun konnte die Armeeführung ihre militärbürokratische, durch und durch korrupte »Neue Ordnung« installieren. Die »New York Times« schrieb: »Die Johnson-Administration kann ihre Freude über die Neuigkeiten aus Indonesien kaum verbergen.«

Die Ereignisse in Indonesien sollten auch 50 Jahre danach zum Nachdenken anregen. Erstens: Die Armee nutzte kühl kalkulierend einen ihr gebotenen Anlass zur physischen Ausschaltung aller Kräfte, die ein Hindernis auf dem Weg zu einem militärbürokratischen Machtsystem darstellten. Zweitens: Die »Volkswut« war eine orchestrierte Mordorgie, für die lange vor dem 1. Oktober 1965 die Todeslisten vorlagen. Drittens waren die Ereignisse in Indonesien von 1965/66 ein Vorläufer dessen, was heute vom »Islamischen Staat« im Nahen Osten praktiziert wird. Und viertens sollte der indonesische Militärputsch allen linken und progressiven Kräften ein Menetekel für die Notwendigkeit sein, sich programmatisch und praktisch auf dem Boden der Realität zu bewegen, ernsthafte Analyse nicht durch Ideologie und Voluntarismus zu ersetzen und soziale Grundpositionen nicht den Verlockungen nationalistischer Kräfte zu opfern.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: