Wo sich Anna Seghers erholte

Familie der Schriftstellerin verliert ihr Wochenendgrundstück am Tiefen See

Am 3. Oktober ab 12 Uhr läutet das Kunstprojekt »c/o Radvanyi« am Wilhelmkorso 30 in Prieros den Anfang vom Ende ein.

Sonnenaufgang am Tiefen See, und Sonnenuntergang. Der Anfang vom Ende wird auf dem Wochenendgrundstück am Wilhelmkorso 30 in Prieros eingeleitet, um 12 Uhr, am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit. Seit 1970 verbrachten hier die Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983), ihr Mann Laszlo Radvanyi, ihre Tochter Ruth und ihre Enkelin Anne viel Zeit.

»Am 4. Oktober fällt nach dem Schuldrechtsanpassungsgesetz der Kündigungsschutz für Nutzungsverhältnisse von beispielsweise solchen Erholungsgrundstücken«, erklärt die Künstlerin Andrea Theis. »Wie für viele andere Besitzer von Datschen in Brandenburg wird das Pachtverhältnis der Familie Radvanyi in absehbarer Zeit enden.« Die Künstlerin verspricht: »Bis das Grundstück einer anderen Bestimmung übergeben wird, weht der Geist der vergangenen Jahre noch einmal kräftig durch das Waldstück.«

Gemeinsam mit Uta Herz hat Andrea Theis das Kunstprojekt »c/o Radvanyi« vorbereitet. Es soll umsonst und draußen sein. Die Schauspielerin Isabel Neuenfeldt bringt dafür ihr Akkordeon mit, spielt und singt, liest die Kurzgeschichte das »Argonautenschiff« von Anna Seghers. Nach einem Imbiss lädt Künstlerin Theis die Gäste um 14.30 Uhr ein, »sich wild gewachsene Eichen-, Kiefern- oder Ahornsprösslinge aus dem üppigen Bestand auszusuchen, um diese an einem fruchtbaren Standort mit Zukunft wieder einzupflanzen«. So kündigt sie es selbst an. Der Tag soll mit Kartoffeln am Lagerfeuer enden.

Menschen, die am Wilhelmkorso 30 zu Gast gewesen sind, erinnern sich an schöne Sommertage mit anregenden Gesprächen. Das wird es so nun bald nicht mehr geben, jedenfalls nicht hier.

Die Erinnerung an Anna Seghers wird aber lebendig bleiben, denn dafür gibt es einen Ort in Berlin-Adlershof. Die Wohnung in der Anna-Seghers-Straße 81, in der die Schriftstellerin von 1955 an bis zu ihrem Tod 1983 lebte, ist seit 30 Jahren Gedenkstätte. Besichtigt werden können in dem Quartier unter dem Dach die Wohnstube und die Arbeitszimmer von Anna Seghers und Laszlo Radvanyi.

Die Seghers hatte ihren Nachlass der Akademie der Künste vermacht. Die Manuskripte und die Briefe lagern heute im Archiv, aber die mehr als 10 000 Bände umfassende Bibliothek steht noch immer in den Regalen. »Es ist der wertvollste Schatz der Gedenkstätte«, sagt die Literaturwissenschaftlerin Monika Melchert, die Besucher herumführt. Zum Bestand gehören wertvolle Erstausgaben der Romane und Erzählungen, die Seghers im Laufe ihres Lebens geschrieben hat, aber auch die Romane und Gedichtbände, die sie liebte - Klassiker der deutschen, russischen und französischen Literatur.

Über dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer hatte die Seghers einen echten Brief von Heinrich Heine angebracht. Sie verehrte Heine. Anstelle des originalen Briefs hängt heute eine Kopie. Aber die Schreibtische und die übrigen Möbel sind original, abgesehen von ein paar Stühlen in Laszlo Radvanyis Arbeitszimmer, auf denen Schüler Platz nehmen, wenn sie die Gedenkstätte besuchen. »Schüler müssen heute sitzen. Sie können nicht stehen«, schmunzelt Melchert.

Original ist auch die Schreibmaschine. Der berühmte revolutionäre Maler Diego Rivera, Mann der heute noch berühmteren Malerin Frida Kahlo, schenkte Seghers diese Schreibmaschine, eine Remington, im Exil in Mexiko. Sie tippte darauf ihren Roman »Transit« (1944). Weil er Flüchtlingsschicksale behandelt, sei »Transit« hochaktuell, berichtet Expertin Melchert. Gegenwärtig laufen auf deutschen Bühnen gleich drei Dramatisierungen des Stoffs und er wird obendrein von einem deutschen Regisseur erneut verfilmt. Es gebe bereits eine ältere französische Filmversion, erklärt Melchert.

Anna Seghers, mit bürgerlichem Namen Netty Reiling, war selbst auf der Flucht. Die junge Frau mit jüdischen Wurzeln, die 1928 dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und der KPD beigetreten war, verließ Deutschland 1933 kurz nach der Machtübernahme der Faschisten. Über mehrere Stationen gelangte sie nach Mexiko. Dort schrieb sie auch ihr wichtigstes Buch »Das siebte Kreuz«. Sie ließ sich dabei von der wahren Geschichte einer Flucht aus dem KZ Sachsenhausen inspirieren. Der »Roman aus Hitlerdeutschland«, so der Untertitel, erschien 1942 zuerst in englischer Sprache in den USA und in deutscher Sprache in Mexiko. Der Schriftstellerin gelang es auf eindrückliche Art, die Verhältnisse in dem Land treffend zu schildern, das sie zu diesem Zeitpunkt schon fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr mit eigenen Augen gesehen hatte. In der DDR gehörte »Das siebte Kreuz« zur Pflichtlektüre im Deutschunterricht.

Literaturwissenschaftlerin Melchert hat eine Einladung erhalten, am 3. Oktober nach Prieros zu kommen. Leider kann sie nicht. Sie wünscht dem Kunstprojekt von Andrea Theis und Uta Herz jedoch viel Erfolg.

Anna-Seghers-Gedenkstätte, Anna-Seghers-Straße 81 in Berlin-Adlershof, geöffnet Di. und Do. von 10 bis 16 Uhr sowie nach Vereinbarung unter Tel.: (030) 677 47 25, Eintritt: 4 Euro, ermäßigt 2 Euro, anna-seghers.de

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