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In den Wirren der Zeiten

Geschichte ganz lebendig: Jan Koneffkes literarischer Ritt durch die deutsche Nachkriegsära

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Kann man ein halbes Jahrhundert, eine strauchelnde Epoche voller Krisen und Verwerfungen, zwischen zwei Buchdeckeln abbilden? Wenn sich Literatur an diesem Anspruch messen lassen will, ist sie gut beraten, den großen Überbau gelinde im individuellen Schicksal zu suchen. Dies meistert der 1960 in Darmstadt Jan Koneffke in seinem aktuellen Roman »Ein Sonntagskind« mit Stilsicherheit und Souveränität. Minuziös vollzieht sein fast 600 Seiten starker Wälzer die Entwicklung des 20. Jahrhunderts seit Hitlers Kriegsbeginn in mehreren Generationen nach und reiht sich in die Tradition der epischen Familiensagas wie Thomas Manns »Buddenbrooks« oder Isabel Allendes »Das Geisterhaus« ein.

Das schlagende Herz dieses Mammutwerkes stellt der junge Konrad dar. In ihm wirkt der Puls aus Irrungen und Wirrungen. Und wie in jeder Jugend eine ungebändigte Sturm-und-Drang-Phase. Nachdem der Rekrut von zu Hause noch mit großem Eifer in die Schlacht zog, lernen wir bald schon einen »versponnene[n] Bursche[n] und schlaksige[n] Lulatsch« kennen, »der im Feld seine Angst nicht bezwingen konnte«. Während sein Vater den Nationalsozialisten kritisch gegenübersteht, avanciert Konrad unter den Faschisten ohne großes Zutun zum Heros auf dem Kriegsfeld.

Ernüchterung holt ihn hingegen nach Hitlers Untergang ein. Fortan klebt die grauenvolle Vergangenheit der eigenen Taten an dem bald schon aufstrebenden Akademiker. Als Ironie der Geschichte wird er zum Philosophieprofessor für Ethik ernannt. Mit sichtlich breitem Horizont lässt Koneffke seinen Emporkömmling daher immer wieder mit hehren Stichworten von Kant und Marx jonglieren, ohne aber den Widerspruch zwischen persönlicher Schuld und universitärem Amt aufzulösen.

Keine Frage: Dieser Roman lebt von seinen inneren Spannungen, von den Paradoxien der Geschichte, dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, wobei er stets mehr beschreibt als bewertet. Skepsis kommt fast nur im Protagonisten selbst auf, mit dessen Denkräumen wir rasch vertraut werden. Koneffke übt sich dabei als detailverliebter Porträtist, als feinsinniger Gedankenziselierer. Er gleitet leichtfüßig zwischen Diskursen und Gesellschaftsphilosophien.

Besonders anregend sind diesbezüglich die Passagen zur 68er-Bewegung und zum darauf folgenden innerdeutschen Terror. Im Dunstkreis aus Vietnamkrieg, Marxismus und Demokratisierungsbestrebungen tritt dem Helden ein Antagonist gegenüber: »Meinhart litt ernsthaft am Widerspruch zwischen den Einsichten kritischer Philosophie und der praktischen Ohnmacht, von der sie beherrscht war.« Der Druck zur Radikalisierung wächst. Gleichzeitig zirkulieren Informationen über Konrads wahre Vergangenheit durch die Staatssicherheitsbehörden der DDR.

In Konrad trennen sich allmählich Fassade und Untergrund, Wahrheit und Fiktion, bis letztlich eine an Adorno angelehnte Grundsatzfrage übrigbleibt: Kann es ein richtiges Leben im falschen geben? Dass sich jede Biografie als Teil eines Illusionsraums versteht, wird insbesondere dessen Sohn bewusst. Er ist derjenige, der die Geheimnisse um seinen Vater, dessen zwielichtige Jugend und spätere Verschleierungstaktik zu rekonstruieren sucht.

So zeichnet dieses leider zu stark ausufernde Werk nicht nur den Bogen vom Nazi-Regime bis letzthin zur wiedervereinigten Bundesrepublik nach, sondern stellt implizit die Frage, in welcher Wechselwirkung individuelle Identität zur kollektiven Historie steht. Der Einzelne entspricht bei Koneffke einem Laboratorium, in dem Mentalitätsgeschichte, Lebenserfahrung und die Sinnsuchen einer jeden Zeit zusammenwirken.

Wenn wir heute über den Wert literarischen Schreibens sprechen, kann ein solcher Entwurf die Zweifler und Kritiker sicherlich überzeugen. Er zeigt, dass Fakten nicht genügen, um das, was die Welt ausmacht, zu erfassen. Es bedarf vielmehr der Geschichten, die sie einbetteten, der schnöden Wirklichkeit Vitalität einhauchen. »Ein Sonntagskind« lässt uns diesen Hauch spüren und entführt uns in das verzweigte Seeleninnere unserer Herkunft. Ein Buch, das Tiefe wie Weite verspricht.

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind. Galiani Berlin. 582 S., geb., 24,99 €.

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