Lob der Disziplin?

Bernhard Buebs Wiederentdeckung der Sekundärtugenden und ihre Folgen

  • Ulrich Hecker
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
»Lob der Disziplin«, das Buch von Bernhard Bueb mit dem eigentlich etwas verstaubt klingenden Titel hat es längst auf die Bestsellerlisten geschafft. Die Thesen des ehemaligen Leiters des Internats Salem erobern Stammtische, Blätterwald und Talkshows. Die Ursache unserer Probleme, so die simple Botschaft, sind unsere Kinder! Und warum? »Der Erziehung ist vor Jahrzehnten das Fundament weggebrochen: die vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin.«
So richtig entfesselt hat die multimediale Aufregung die »Bild«-Zeitung. Sie ernannte Bueb flugs zu »Deutschlands strengstem Lehrer« und druckte zwischen Nackedeis und Skandalgeschichten Tipps, wie frustrierte Lehrer und genervte Eltern dem Treiben unreifer Jugendlicher ein Ende setzen können. Sogar auf die Homepage des NRW-Schulministeriums hat es Bernhard Bueb gebracht: »Sollen Sekundärtugenden wieder eine größere Rolle spielen?«, lautete die »Streitfrage« Ende September. Das Ministerium ließ sogar online abstimmen und verkündete: »Viel deutlicher kann ein Ergebnis kaum ausfallen. 94 Prozent von Ihnen sind der Meinung, dass Sekundärtugenden wie Gehorsam, Pünktlichkeit und Ordnungssinn auch an den Schulen wieder eine größere Rolle spielen sollen. Damit unterstützt die breite Mehrheit offensichtlich die Position des Pädagogen Bernhard Bueb.«

Schlimme Verallgemeinerungen
Spätestens seit den Thesen »Mut zur Erziehung« (1978), Präsident Herzogs »Ruck-Rede« wider die »Kuschelpädagogik« (1997) gehört die Forderung nach mehr »Disziplin« regelmäßig zu den Lieblingsthemen im Medienzirkus - ein Thema, um das herum sich leicht mediales Spektakel entfachen lässt - beliebig und folgenlos. Bernhard Bueb hat ein negatives Bild von heutigen Kindern und Jugendlichen. Das Schlimme daran sind seine Verallgemeinerungen. Die Shell-Jugendstudie 2006 zeichnet ein ganz anderes Bild als das von Bueb entworfende: »Die latenten Ängste führen bei den jungen Menschen im Alltag nicht zu Renitenz und Auflehnung, sondern vor allem zu Anpassung und extremer Leistungsorientierung. Fleiß, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und Pünktlichkeit stehen hoch im Kurs.« Bueb aber ruft den »Bildungsnotstand« aus. Die Ursachen dafür sieht er allerdings nicht in der chronischen Unterfinanzierung oder der sich herausbildenden Kleinstaaterei, nicht in verkrusteten Strukturen des Bildungswesens und zu viel überholter Pädagogik. »Bildungsnotstand« ist für ihn gleich »Erziehungsnotstand«. Und Grund für die schlechte Erziehung wiederum seien überforderte Eltern, überfürsorgliche Mütter, das Fernsehen, die Konsumgesellschaft, auch das charakterliche Mittelmaß der »Eliten«. Im Ergebnis sieht er Werteverfall und Kinder, die von ihren »Freiheiten« völlig überfordert sind. Ganz alte »Weisheiten« verkauft der Autor als zeitgemäße Erkenntnisse: »Der Weg zur Freiheit führt notwendigerweise durch die Unterordnung«, »Erziehung bedeutet Führung«, gern verweist er darauf, dass »Pädagoge« im griechischen Ursprung »Knabenführer« bedeutet.
Die »vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin« ist für Bueb das Fundament jeder Erziehung. Autorität ist in seinem Weltbild das Ergebnis einer Mischung von Macht und Liebe. Eltern und Lehrer werden aufgefordert, Freude an der Macht zu entwickeln. Die durch Liebe legitimierte Macht (Autorität) begründet sich von einer altbekannten »Dreifaltigkeit« her: Der Macht Gottes, der des Staates und, abgeleitet davon, der Erziehungsberechtigten! So legitimiert fordert Bueb Eltern und Lehrer auf, endlich ihre Autorität mit Hilfe von konsequenten Strafen durchzusetzen. Ordnung, Fleiß, Sauberkeit, Manieren sind für ihn die Sekundärtugenden, die auf den moralisch richtigen Weg führen. »Erziehung ist schließlich die Kindern täglich abgerungene Überwindung ihres Egoismus und ihrer Trägheit.« Das Leistungsprinzip steht für Bernhard Bueb an erster Stelle, es ist die Legitimation dafür, den Kindeswillen einzuschränken.
Autorität aber, das weiß Pädagogik nach Auschwitz, muss legitimiert sein und hinterfragt werden können. Für Bernhard Bueb ist diese Auffassung eine bedauerliche Spätfolge des Nationalsozialismus. Durch ihn seien Autorität und Gehorsam in Verruf gebracht worden, und von dieser Erblast gelte es sich zu befreien. Nicht zu vergessen ist aber, dass es einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem »autoritären Charakter« (Erich Fromm) und dem Faschismus gibt - zwischen der Erziehung zum blinden Gehorsam und der Bereitschaft, Menschen zu demütigen, zu foltern, zu töten. Befehlen und Gehorchen sind die beiden Seiten desselben autoritären Charakters.

Erziehung zur Selbstdisziplin
Vielleicht hat früher gehöriger »Druck« in Familien und in Klassenzimmern an der Oberfläche für mehr »Ruhe und Ordnung« gesorgt: Friedhofsruhe allerdings, erkauft mit Demütigungen, Schuldgefühlen, nicht selten mit Gewalt. Bernhard Bueb hat ja Recht, wenn er eine geordnete Umwelt für wichtig hält. Regeln aber müssen gemeinsam verabredet werden, nicht von oben verordnet. Regeln müssen für alle gelten, auch für Erwachsene. Und Regeln müssen sinnvoll sein. Pünktlichkeit und Ordnung sind keine Werte an sich. Selbstständig nämlich werden Kinder nur, wenn man ihnen Selbstständigkeit zutraut, verantwortlich nur, wenn sie Verantwortung übertragen bekommen, respektvoll nur, wenn man sie respektiert, sie als heranwachsende Persönlichkeiten ernst nimmt.
Die Schulpädagogik kennt das Konzept »Erziehender Unterricht«. Gemeint ist damit die Kombination sich entwickelnden sozialen Umgangs in Klasse und Schule mit einer tieferen Erfahrung der Inhalte des Lernens. Diese Dialektik zwischen Mitmenschlichkeit und Sachlichkeit brachte Hartmut von Hentig auf die klassische Formel »Die Menschen stärken - die Sachen klären«. Der französische Reformpädagoge und Sozialist Célestin Freinet sprach von der »Schulklasse als Kooperative«. Gemeint war damit gemeinsames Leben und Lernen in gemeinsamer Verantwortung. Mit dieser konkreten Utopie stellte Freinet das Problem der »Disziplin« vom Kopf auf die Füße: »Das Kind, das sich mit Begeisterung betätigt, diszipliniert sich selbst, sofern es nicht automatisch durch die Arbeit an Ordnung gewöhnt wird. Unsere wahre Arbeit besteht darin, unseren Schülern alle erzieherisch wirkenden Tätigkeiten zu erlauben, die ihre Persönlichkeit zufrieden stellen, die eine Disziplin voraussetzen, welche ihre Motivation im gesteckten Ziel findet. Das einzige Kriterium wird nun nicht mehr die Frage sein: Sind die Kinder brav, gehorsam und ruhig? Sondern: Arbeiten sie mit Begeisterung und Schwung?«
»Bewährung« heißt das neue Buch von Hartmut von Hentig, dessen Vorschläge den Teufelskreis von Frustration und Gleichgültigkeit durchbrechen sollen. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen Chancen zu geben, sich zu bewähren: Notwendig ist eine Schule, die die »nützliche Erfahrung« ermöglicht, »nützlich zu sein«.

Der Autor ist Grundschulrektor in NRW und Stellvertretender Vorsitzender des Grundschulverbandes.
Das Buch von Bernhard Bueb ist im Pa...

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