Immer erreichbar für den Chef

Arbeitsschutzbericht befasst sich mit zunehmender psychischer Belastung im Berufsalltag

Baustellen sind lebensgefährlich. 2014 hat es dort drei tödliche Unfälle gegeben. Nicht verharmlost werden dürfen Gefahren durch psychischen Druck am Arbeitsplatz.

Die Bauarbeiten auf dem Dachboden eines Einfamilienhauses in Südbrandenburg waren bereits erledigt. Ein Arbeiter machte zum Abschluss nur noch sauber, entfernte Späne mit einem Staubsauger. Dabei stürzte er kopfüber durch die ungesicherte Dachbodenluke, brach sich den Halswirbel und starb noch am Unfallort. In Ostbrandenburg stürzte ein Dachdecker acht Meter tief von einem Baugerüst und erlag seinen schweren Verletzungen. An der Stelle, an der dieser Mann Holzbretter als Verkleidung am Giebel anbringen sollte, hatte am Baugerüst der vorgeschriebene Zwischenholm gefehlt, der gegen derartige Abstürze schützen soll.

Das sind zwei von acht tödlichen Arbeitsunfällen, die sich im vergangenen Jahr in Brandenburg ereigneten. Sozialministerin Diana Golze (LINKE) legte am Donnerstag in einer Rettungswache in Werder/Havel den jüngsten Arbeitsschutzbericht vor. Die beiden geschilderten Fälle sind in dem 96-seitigen Bericht nachzulesen. Im Jahr 2014 sind 27 350 Arbeitsunfälle gemeldet worden. Meldepflichtig ist ein Arbeitsunfall, wenn der Beschäftigte danach mindestens drei Arbeitstage ausfällt.

Im Jahr 2013 hatte es nur 25 700 Arbeitsunfälle gegeben, darunter sechs tödliche. Das heißt aber noch nicht zwangsläufig, dass die Unternehmer im Bundesland rücksichtsloser und ihre Mitarbeiter unvorsichtiger geworden sind oder dass vom Landesamt für Arbeitsschutz zu wenig und nachlässig kontrolliert wird. Laut Arbeitsschutzbericht sank die Zahl der Unfälle zwischen 2003 und 2009 kontinuierlich von rund 37 000 im Jahr auf etwa 24 000. Der leichte Anstieg seit 2010 hänge mit einer deutlich angewachsenen Zahl der Erwerbstätigen zusammen, heißt es.

Dennoch gibt es Firmenchefs und Vorgesetzte, die ihre Untergebenen in einem unerhörten Maß schuften lassen - zum Beispiel in Nachtschichten an sieben Tagen hintereinander, wobei sonnabends und sonntags auch noch zwölf Stunden lange Schichten eingelegt werden mussten. Klagen wegen überlanger Dienste und zu wenigen Ruhepausen kommen unter anderem aus Pflegeheimen, Gaststätten und Hotels sowie von Kurierdiensten. Beschweren sich die Mitarbeiter beim Landesamt für Arbeitsschutz oder bemerkt das Amt solche Missstände bei Routinekontrollen selbst, so schreitet es ein.

Ein zunehmendes Problem ist die Arbeitsüberlastung, die sich daraus ergibt, dass Beschäftigte für ihre Chefs oder ihre Kunden ständig per E-Mail oder Mobiltelefon erreichbar sind. Daraus ergeben sich psychische Belastungen. Sie sind inzwischen für 14,6 Prozent aller Krankheitstage und Fehlzeiten in brandenburgischen Belegschaften die Ursache - und damit nach Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit.

»Neue Technologien und Informationssysteme führen zu einem rasanten Wandel der Arbeitswelt«, weiß Sozialministerin Golze. »Arbeit ist heute viel stärker von Flexibilisierung geprägt und nicht mehr an feste Orte und Zeiten gebunden. Davon werden immer mehr Berufsgruppen erfasst.« Dass sich die Arbeitsanforderungen immer mehr von der klassischen körperlichen Beanspruchung zu psychischen Belastungen verschieben, sei eine »große Herausforderung für den Arbeitsschutz«, sagte die Ministerin. Sie meinte, dass die Arbeitsschutzbestimmungen dringend angepasst werden müssten. Brandenburg habe hierzu bereits 2013 gemeinsam mit anderen Ländern eine Verordnung in den Bundesrat eingebracht. »Aber die Bundesregierung bleibt tatenlos«, rügte Golze. Die Gefährdungen durch psychischen Druck am Arbeitsplatz dürften nicht unterschätzt oder verharmlost werden, findet sie.

Im Jahr gibt es in Brandenburg 25,2 Arbeitsunfälle je 1000 Beschäftigte. Bundesdurchschnitt sind 22,4. An einem normalen Arbeitstag kommt es in Brandenburg zu etwa 120 Unfällen, darunter mindestens einer mit einer schweren Verletzung und einem bleibenden körperlichen Schaden. Beispielsweise in der Landwirtschaft besteht große Unfallgefahr, sobald der Stress in der Erntezeit stark zunimmt. Wenn bei gerade günstiger Witterung Getreide schnell vom Feld muss, werden Vorschriften nicht mehr so genau genommen. Am gefährlichsten bleibt es auf dem Bau. Drei Todesopfer hat es 2014 auf Baustellen gegeben.

Doch auch an der Sortieranlage in einem Lebensmittelbetrieb gab es einen Toten. In der Anlage wird tiefgefrorenes Obst maschinell zerkleinert. Bei einem Rückstau an den Brecherwellen soll die Bedienung mit Metallstangen nachhelfen. Doch ein Beschäftigter versuchte es mit dem Fuß. Die Brecherwellen erfassten sein rechtes Bein und zogen ihn bis zum Unterleib in die Maschine. Ein zur Abdeckung angebrachtes Gitterrost soll ein solches Unglück künftig ausschließen. Seite 11

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