Sparen statt Tafel zum Neujahrsfest
In Russland führt die angespannte Wirtschaftslage zu stark verändertem Konsumverhalten
Die Auswahl an Überraschungseiern, Schokoriegeln, Gummibärchen, die in russischen Supermärkten auf Kunden warten, ist deutlich überschaubarer geworden. Das hat nicht nur mit dem Einfuhrverbot für europäische Lebensmittel zu tun, das Moskau im Sommer 2014 als Retourkutsche für westliche Sanktionen wegen der Ukraine-Krise verhängte. »Mütter«, sagt eine Kassiererin, »haben das Quengeln satt, wenn sie das, was ihre Kinder mit vollen Händen in den Einkaufswagen packen, wieder zurück in die Regale legen müssen. Wie wollen Sie einem Vierjährigen erklären, dass Sie knapp bei Kasse sind?«
Die Kassiererin packt einer Kundin Milch, ein Stück abgepackten »Rossijski«-Käse, Eier und Brot in die Einkaufstüte. Obwohl sie das eigentlich nicht muss. »Ist ja nicht viel los heute«, sagt sie wie entschuldigend. »596 Rubel (8,76 Euro), bitte.« »Ist ja schon wieder alles teurer geworden,« seufzt die Kundin. Teuerung, Inflation und Rezession, so auch das Fazit einer Studie des Wirtschaftsministeriums, haben das Konsumverhalten der Russen grundlegend verändert. Man lerne zu sparen, kaufe weniger und Billigprodukte minderer Qualität und sehe hoffnungslos in die Zukunft. 85 Prozent bewerten die Wirtschaftslage als instabil, zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Umfrage der Zentralbank. 84 Prozent fürchten demnach weitere Preisanstiege, 63 Prozent rückläufige Einkommen, 67 Prozent zunehmende Arbeitslosigkeit.
Kaufrausch, Run auf hochwertige Konsumgüter und Luxuswaren - das war einmal. Seit 2014 geht es wirtschaftlich abwärts, 52 Prozent versuchen seither zu sparen. Real gelang es von Oktober 2014 bis Oktober 2015 nur knapp einem Fünftel. Doch es wird immer schwieriger: 69 Prozent der Sparer konnten im vergangenen Monat nichts mehr zurücklegen.
Dass die Spareinlagen in den ersten neun Monaten 2015 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum dennoch um 14 Prozent stiegen, erklären Experten vor allem mit den hohen Zinsen. Glücklich sind sie darüber ebenso wenig wie über die sinkende Verschuldung. Die erklärt Michail Chromow, Direktor des neoliberalen Zentrums für Strukturforschungen, mit weniger neuen Krediten. Das Geschäft sei für Banken wie für Kunden zu riskant geworden. Die Geldhäuser bangten um fehlende Sicherheiten, die Schuldner ängstigten sich, wegen sinkender Reallöhne Verpflichtungen nicht nachkommen zu können. Immerhin lag die Inflationsrate allein im Oktober bei 15,6 Prozent. Anpassungen von Löhnen und Gehältern indes fielen wegen der Wirtschaftsflaute um die Hälfte geringer aus als im Vorjahresmonat - obwohl die Inflation damals unter sieben Prozent blieb.
Genaue Zahlen für November liegen noch nicht vor, der Trend habe sich jedoch verfestigt, glaubt Chromow. Umfragen von Dezember bestätigen das: 53 Prozent sagten, ihre materielle Situation habe sich 2015 deutlich verschlechtert, bei Rentnern und sozial Schwachen waren es sogar bis zu 70 Prozent. 40 Prozent klagten über verspätet ausgezahlte Löhne und Gehälter.
Derzeit, so Chromow, seien die Reallöhne weit von dem entfernt, was das Internetportal Super-Job als »Glücksschwelle« bezeichnet. »Glückliche« Russen verfügen demzufolge über ein Einkommen von mindestens 175 000 Rubel (2500 Euro), in Moskau sogar von 193 000 Rubel. Doch die Moskowiter gehen derzeit mit durchschnittlich 850 Euro nach Hause, Provinzler mit knapp 500. Verfügbar sind davon nur 59 Prozent, der Rest geht für Kreditrückzahlungen drauf. Somit hätten die Russen nur zwei Möglichkeiten, sagt Chromow: sich eine besser bezahlte Arbeit zu suchen, was extrem schwierig sei, oder den Gürtel enger zu schnallen. Weil große Anschaffungen schon verschoben oder gestrichen wurden, gelte es jetzt, den Alltag nach Sparpotenzial durchzuforsten. Umfragen zufolge wollen 45 Prozent beim Essen sparen, 51 Prozent bei Kleidung, Haushaltsbedarf und Dienstleistungen.
Der Einzelhandelsumsatz werde sich weiter rückläufig entwickeln, warnt der Chef des Einzelhandelsverbandes, Ilja Lomakin-Rumjanzew. Die Menschen kauften nicht mehr im nächsten, sondern im günstigsten Supermarkt und warteten auf Aktionen und Ausverkäufe. Die damit erzielten Erlöse seien mit bis zu 45 Prozent am Jahresumsatz beteiligt. Auch der Warenkorb habe sich verändert. Statt Rind werde etwa Huhn gekauft.
Die Hoffnungen, dass sich die Lage vor dem wichtigen Neujahrsfest entspannt, schwinden ebenfalls. Selbst in Krisenzeiten galten eherne Grundsätze: Einmal im Jahr musste sich die Tafel unter Speis und Trank biegen - und jeder seine Lieben beschenken, ohne auf die Kopeke zu schauen. Diesmal überlegen 30 Prozent »ernsthaft«, ob sie sich das leisten können. Statistiker haben errechnet, dass der Durchschnittsfamilie dieses Jahr für Festmahl und Liebesgaben 15 000 Rubel zur Verfügung stehen. Das sind sieben Prozent weniger als im letzten Jahr. Deshalb wollen die meisten bei »Zerstreuung« knapsen: kein Zirkus, kein Kino, kein Puppentheater. Und die Sektkorken lässt man statt im Restaurant im Wohnzimmer knallen.
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