Friedrich, Fontane und Fotovoltaik

Die Gemeinde Letschin in Brandenburg hat ihren Weg zwischen Oderbruch-Tradition und Neuzeit gefunden

  • Tomas Morgenstern
  • Lesedauer: 8 Min.

Dort, wo die Landesstraße 334 aus Richtung Gusow in die Bahnhofstraße einbiegt, flankieren unerwartet Dutzende Signalanlagen, Bahnschranken und Baken den Weg. Ein buntes Sammelsurium aus historischem Reichsbahngerät, Waggons, Hinweistafeln und Anzeigern, das die Mitglieder der Eisenbahnvereins Letschin e.V. hier in 16 Jahren zusammengetragen haben. Zwar lässt sich am Morgen im »Signalgarten« des Eisenbahnmuseums kein Mensch sehen, aber alle Zeichen stehen auf: Freie Fahrt!

Letschin grüßt aus der Ferne mit dem schmalen Schinkelturm. Es ist eine typische Oderbruch-Gemeinde, vielleicht ein wenig städtischer als die ehemaligen Kolonistendörfer im Grenzland an der Oder. Die »gute Stube« der rund 4100 Einwohner zählenden Gemeinde beginnt gleich hinter dem neumodischem Kreisel: Auf einem Sockel erhebt sich Friedrich II., der sich hier mit der Trockenlegung der Oderniederung vor mehr als 250 Jahren ein Denkmal gesetzt hat. Das von Weddo von Glümer geschaffene Standbild haben die dankbaren Letschiner 1905 aufstellen lassen. Als der durch ein verirrtes Geschoss lädierte Bronze-Fritz 1945 eingeschmolzen werden sollte, haben ihn beherzte Bürger fortgetragen und hinter Gurkenfässern und Stroh versteckt. Erst seit 1990 ist er wieder auf dem Posten. Das Wirtshaus »Zum Alten Fritz«, früher das erste Haus am Platze, hat der vor der Haustür posierende Preußenkönig nicht vor dem Niedergang bewahrt. Es hat vor zwei Jahren geschlossen. Die Stellung hält die Touristeninformation.

Kriege haben im 680-jährigen Letschin tiefe Spuren hinterlassen, manches Haus trägt noch sichtbar die Narben. Auf dem Anger zwischen Karl-Marx- und Rudolf-Breitscheid-Straße erinnern gleich mehrere Mahnmale an das viele vergossene Blut. Wie eine Anklage erhebt sich dort der 1818/19 nach Plänen Schinkels erbaute Turm der Dorfkirche. Das, was nach der Seelower Schlacht im Frühjahr 1945 sonst noch von ihr übrig war, wurde Mitte der 1970er Jahre abgerissen. Den Grundriss des Kirchenschiffes zeichnet die Bepflanzung auf der Grünfläche nach.

Wo der Alte Friedrich und Schinkel den Dorfkern markieren, da ist meist auch Theodor Fontane nicht weit. Dessen Eltern betrieben ab 1838 die Apotheke im Dorf - eine Fontane-Apotheke gibt es dort noch immer. Auch ein Park und seit diesem Jahr die Letschiner Schule, die einmal Thälmanns Namen trug, schmücken sich mit dem Namen des Dichters und »Wanderers durch die Mark«. Nur der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass sich im nahen Domänegut Wollup auch Peter Joseph Lenné mit einem Naturpark verewigt hat. Doch die Letschiner leben vor allem im Hier und Heute. Das eigentliche Dorf - Letschin hat zehn Ortsteile - hat sich in den letzten Jahren herausgemacht, viele Häuser sind saniert, es gibt Läden, Gaststätten und die Supermarkt-Filialen. Die Heimatstube im einstigen Armenhaus ist gefragter Anlaufpunkt für Durchreisende. In ihrer Sichtweite kümmert sich das Altenpflegeheim »Haus Hanna«, das das Evangelische Diakonissenhaus Teltow seit 1995 betreibt, um das Wohl Hilfsbedürftiger - es ist der bedeutendste Arbeitgeber im Ort.

Die Gemeindeverwaltung residiert in einem Zweigeschosser gleich gegenüber dem großen Sonderpostenmarkt. Bürgermeister Michael Böttcher war nicht so begeistert, so kurz vor den Feiertagen noch Besuch zu empfangen. Und wenn, dann würde er lieber über die Dinge reden, die Letschin attraktiv und lebenswert machen, ließ er wissen. Erfolgsgeschichten wie die Entwicklung des Seniorenheims, touristische Highlights wie die Marina am Binnenhafen von Kienitz, der Kulturhafen in Groß Neuendorf oder das moderne Radwegenetz. »Manhattan« jedenfalls zählt er nicht dazu - die zwei Plattenbauten in der »Straße der Jugend« am Ortsrand, die einmal heiß begehrt waren, sind heute alles andere als ein Aushängeschild. Und die »Stern«-Reportage »Manhattan ist in Brandenburg« von 2014 hat in Letschin viel Staub aufgewirbelt. Dann hat er sich aber doch Zeit genommen, hat Weihnachtsgebäck auf den Tisch gestellt. »Ist noch von der Seniorenweihnachtsfeier gestern Abend übrig«, sagt er. Und Manfred Neubauer, der Ortsvorsteher, lobt den Bäcker am Markt, weil bei dem alles wie daheim gebacken schmecke. Die beiden sind richtige Oderbrücher, kennen sich ewig.

Böttcher ist von der Freien Wählergemeinschaft und seit zehn Jahren im Amt. »Eigentlich ist ja Berlin ein Vorort von Letschin gewesen«, sagt er. Das war aber zu einer Zeit, als das Gemüsekombinat in Wollup, heute Teil der Gemeinde, noch die Hauptstadt beliefert hat, als die Zuckerfabrik in Voßberg noch ein Begriff in der ganzen DDR war und der VEB Goldpunkt aus Berlin-Weißensee in Kienitz Schuhe produzieren ließ. 1991 gingen dann überall die Lichter aus. Dass die Zuckerfabrik nach 127 Jahren geschlossen und als Produktionsstandort schließlich Könnern in Sachsen-Anhalt bestimmt wurde, wurmt den Bürgermeister noch immer. »Rund 300 Leute haben allein dort ihre Arbeit verloren«, sagt er. Der Wegfall der Arbeitsplätze habe sich recht bald auf den Wohnungsmarkt bemerkbar gemacht. Viele Menschen seien fortgezogen. Wer Arbeit und Geld hatte, suchte sich zu verbessern, sei vom Rand mehr in den Ort gezogen oder habe gebaut. Viele seien dann aus der Platte weggezogen.

Inzwischen hat sich die Lage geändert. Zwar gibt es nicht mehr so viele Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, und auf den Feldern werden immer mehr Energiepflanzen wie Raps und Mais angebaut, die meist zu Biokraftstoffen oder Futter verarbeitet werden. Der Bürgermeister ist stolz darauf, dass die erneuerbaren Energien hier Fuß gefasst haben. Auf dem Gelände der Voßberger Zuckerfabrik etwa stehen weite Fotovoltaik-Felder und etliche Biogas-Anlagen. Einzig der hohe Schornstein, der in den 1980er-Jahren so etwas wie ein Symbol der Modernisierung der Zuckerfabrik war, ist stehengeblieben. Er könnte als Fledermausquartier noch von Nutzen sein. »Die Bevölkerungszahl ist mit 4100 noch ungewöhnlich stabil, und sogar die Arbeitslosigkeit ist annähernd auf das Niveau des Landes gesunken«, so Böttcher.

Im »Signalgarten« des Museums – die Mitglieder des Eisenbahn-
vereins Letschin e.V. teilen ihr Hobby mit einer großen 
Fangemeinde.
Im »Signalgarten« des Museums – die Mitglieder des Eisenbahn-
vereins Letschin e.V. teilen ihr Hobby mit einer großen 
Fangemeinde.

In der »Straße der Jugend« stehen die typischen Wohnhäuser aus den 1960er Jahren mit ihren Garagen und Wäscheplätzen. Die zwei Plattenbauten an der Straße nach Kienitz sind erst ab 1984 gebaut worden. Mit ihren schornsteinbekrönten Giebeldächern überragen sie alles ringsum. Nicht nur der Zahn der Zeit hat an ihnen Spuren hinterlassen. Der hintere Block steht leer, das Haus mit seinen zerborstenen Fenstern haben Scharen von Vögeln erobert. Im anderen Block sind nur noch wenige Wohnungen belegt, rund 30 Personen sollen dort für kleines Geld zur Miete wohnen.

Den Namen »Manhattan« für die Viergeschosser haben vermutlich herumblödelnde Jugendliche ausgeheckt - so etwas geschah einfach. In Marxwalde, dem heutigen Neuhardenberg, sei das fast zur selben Zeit entstandene Wohngebiet für die Familien der NVA-Angehörigen auch schnell »Pentagon« genannt worden, sagt Böttcher. Rund 200 Menschen hätten damals dort eine Wohnung bekommen. Da es weit mehr Bewerber gegeben habe, seine wohl auch welche verlost worden.

»Nach der Wende sind bald viele Leute dort ausgezogen«, erinnert sich Böttcher. Das sei der »Straße der Jugend« nicht gut bekommen. Ortsvorsteher Neubauer erinnert sich, dass Mitte der 1990er Jahre die Wohnungsbaugesellschaft am Ort Pleite gegangen ist. Die »Platte« habe ein Investor aus dem Westen billig erworben, er lasse sich seither nicht mehr blicken. »Der Verwalter sitzt in Berlin.«

Es ist beiden Kommunalpolitikern unangenehm, aber sie können an den Verhältnissen in »Manhattan« nicht viel ändern. »Dort leben Menschen aus sozial schwachen Verhältnissen. Sie wohnen aus freien Stücken dort, und immerhin muss so keiner unter freiem Himmel schlafen«, sagt der Bürgermeister. Die Gemeinde helfe mit Brennholz. Und die Kinder unterstütze man, versuche mit Spenden die Teilnahme an Schulausflügen zu sichern. »Die Kinder haben es echt nicht leicht.«

Stephan Schoenemann sitzt für die LINKE seit 2008 in der Gemeindevertretung. Er hat selbst für ein Jahr in »Manhattan« gewohnt. »Es war sehr schön. Erstbezug, zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad, Balkon und ganz oben«, erinnert er sich. Den Mietpreis hat er vergessen, aber der sei ja kaum ins Gewicht gefallen. »Wir hatten einen grandiosen Ausblick in beide Richtungen - sowohl zur Oder als auch über Letschin hinweg weit ins Land.« Schoenemann stammt aus Berlin-Prenzlauer Berg. Er ist Diplom-Agraringenieur und 1979 nach dem Studium an der Humboldt-Uni als Absolvent ins Oderbruch geschickt worden. Er hat zunächst zur Untermiete gewohnt, später - mit Frau und Kind - in einer zu kleinen Wohnung. Als sie endlich in »Manhattan« eingezogen waren, kündigte sich bald wieder Nachwuchs an. »Es sind dann gleich Zwillinge geworden, damit war die Wohnung für uns zu eng und wir sind wieder ausgezogen.« In »Manhattan« habe damals dort ein Querschnitt der Letschiner Einwohnerschaft gleichberechtigt beieinander gewohnt - Arbeiter, Bauern aus der LPG, Verwaltungsangestellte, Wissenschaftler, Familien von den umliegenden Loose-Gehöften. Schoenemann bedauert den maroden Zustand der Häuser. Es sei mal die Rede davon gewesen, dort Flüchtlinge unterzubringen, aber ein gutes Gefühl hätte er dabei nicht. Er fände es besser, wenn Asylbewerber aus dem Heim in Voßberg, wo aktuell 60 Menschen untergebracht sind, später auf Wohnungen im Ort verteilt würden.

Am Nachmittag regt sich dann doch Leben am Eisenbahnmuseum. Bernd Kutzke, der 1. Vereinsvorsitzende, ein Vollbluteisenbahner mit verwegenem Schnauzbart, schaut nach der Arbeit noch nach dem rechten. »So wie jeden Tag«, wie er betont. Kutzke arbeitet bei der DB Netz AG, seinen Dienstsitz hat der Signalhauptbetriebsmechaniker im Bahnhof von Letschin, also dort, wo die Regionalbahn RB 60 und der Überlandbus die Verbindung Letschins zur Außenwelt herstellen. Den Bahnhof hat der Verein vor einiger Zeit gekauft. »Die Deutsche Bahn ist im Bahnhof übergangsweise noch Mieter«, sagte Kutzke. Der neue Hausherr will eine Museumsbahn auf den Gleisen zwischen Museum und Bahnhof fahren lassen. »Ich habe mir dort meinen eigenen Arbeitsplatz gekauft.« Den 1999 gegründeten Eisenbahnverein Letschin e.V. leitet Kutzke gemeinsam mit Manfred Nickel. »Ihr müsst am Wochenende vorbeikommen, dann ist hier immer Betrieb.« Ein Blick in die Halle und man glaubt ihm: Modelleisenbahnen aller Spurweiten - »durchweg Schenkungen« -, eiserne Stellwerkstechnik, Schaltpulte, Uniformen, zwischen altem Hausrat Bücher und Prospekte, an den Wänden Emailleschilder. Ein Paradies für die 32 Vereinsmitglieder sowie für große und kleine Kinder. Beinahe jede Woche kommen Schulklassen und Kita-Gruppen. Mancher Eisenbahnfreak von weither ist Stammgast. Rund 3000 Besucher kommen pro Jahr in die Ausstellungen und zu Events. Am alten Fahrkarten-Drucker stellt sich die Frage, ob der noch funktioniert. Wegen des Rückfahrscheins.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -