Isabella, großer Gott

90 Minuten Ausnahmezustand und Maschinenpistolenträger in der »Tagesschau«: Matthias Dell über den Tatort »Fegefeuer«

  • Matthias Dell
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist natürlich lustig, eine Sendung, die nach der »Tagesschau« anfängt, mit dem Ende einer »Tagesschau« beginnen zu lassen. Judith Rakers legt strahlend die Alibi-Zettel weg, die sie vor sich hat, während sie vom Teleprompter abliest, und dann verfinstert sich die Miene, weil maskiert, in Militärkleidung gewandte Maschinenpistolenträger das Studio stürmen.

Am 29. November, an dem der Hamburger »Tatort: Fegefeuer« (für die NDR-Redaktion braucht es, das dürfte Rekord sein, sogar drei Menschen: Christian Granderath, Philine Rosenberg, Thomas Schreiber) ursprünglich ausgestrahlt werden sollte, wäre der Effekt sogar noch irritierender gewesen, weil nicht, wie am 3. Januar, Jan Hofer Dienst geschoben hätte, sondern eben: Judith Rakers (wenn auch im roten statt wie im »Tatort« im weißen Kleid). In solchen Momenten wird anschaulich, was der NDR aus dem Schweiger-»Tatort«-Deal zieht: Soviel Eigenwerbung wie nie. Medienwissenschaftlich wäre es interessant zu wissen, wie das heißt, wenn das eine sogenannte Flagschiff eines Senders permanent auf das andere verweist.

Verschoben wurden ist die Folge seinerzeit wegen der Anschläge von Paris. Mit den dortigen Attentätern haben die Maschinenpistolenträger im »Tagesschau«-Studio allerdings wenig Ähnlichkeit: Sie nehmen, bei ausbedungener durchgängiger Screentime, die »Tagesschau«-Redaktion als Geisel, um Nicklas Tschillers (Til Schweiger) liebsten Feind, den im ersten Teil dieser Doppelfolge »Der große Schmerz« arg gebeutelten Clanchef Firad Astan (Erdal Yildiz), freizupressen, weil der Besitzer von Anteilen am Hafen ist, die eigentlich dem korrupten Innensenator (Arnd Klawitter) gehören, der sie Astan überschrieben hatte, weil der vom Innensenator-Sex mit Minderjährigen wusste (bei dem übrigens Helene Fischers fesche Leyla aus dem ersten Teil involviert war; größere Klarheit über die Rolle der Leyla stiftet dieses Wissen aber auch nicht), und mit Astan und seinen Anteilen ein Hafendeal mit der Russenmafia nicht möglich wäre. Dafür das »Tagesschau«-Studio? Man kann sich schon nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel fragen (Drehbuch: Christoph Darnstädt).

Aber diese scheinbaren Terroristen mit ihrer Forderung nach der Live-Übertragung, die alle gucken müssen, nach sind doch eine schöne Metapher für Til Schweigers Wille und Vorstellung vom actionreichen »Tatort«. Der wurde vorab eigens nicht der Presse gezeigt – angeblich, um die wahnsinnige Spannung nicht zu gefährden, die der ermüdende, 90 Minuten lange Ausnahmezustand von »Fegefeuer« nicht zu halten vermochte. Insofern hat Til Schweiger die guten Sitten beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gekapert; und innerhalb einer Woche, mit den Wiederholungen der beiden ersten Fälle, sechs Stunden Screentime auf hervorgehobenen und besten Sendeplätzen der ARD zu bekommen, haben auch noch nicht viele vermocht.

Und auch wenn die Geschichte des Hamburger »Tatort« sich nun als über eben vier Folgen miteinander verbunden zeigt (Mark Waschke, mittlerweile selbst Kommissar in Berlin, wird als fieser Bulle aus dem ersten Schweiger-»Tatort: Willkommen in Hamburg« auch noch mal rausgeholt), bleibt doch nicht das Gefühl raffinierter Komplexität zurück, sondern der Überdruss am immer gleichen Rumgemackere: Das Duell der derben Männer (Tschiller-Astan), die verletzte eigene Familie (die Ex-Frau starb in Folge »Der große Schmerz«) als Freifahrtschein für alles – »irgendwann schaltet man ab«, wie eine der befreiten »Tagesschau«-Geiseln in eine »Tagesschau«-Mikrofon in »Fegefeuer« spricht.

Dabei ist der Film (Regie: Christian Alvart) in seinen Actionszenen, der Diversität seiner Besetzung und seinen Locations beziehungsweise dem Blick auf die Stand häufig so souverän wie wenig im deutschen Fernsehen (und am allerwenigsten das Geballer beim späten Schimanski). So sehr man Schweiger für den Willen zur Größe schätzen kann, so klein macht er alles, weil die eigene Figur, eindimensionale Figur, so übertrieben absolut gesetzt ist: Das Bild mit der Panzerfaust dürfte in ein paar Jahren als historischer »Tatort«-Trash gelten.

Ein Vorteil von »Fegefeuer« ist, dass die Tschiller-Tochter (Luna Schweiger) kaum Auftritte hat; der eine, in dem sie ihrem Vater Vorwürfe macht für den Tod der Mutter wirkt so absurd (Wer ist denn völlig sinnlos auf dem Boot aus der Deckung gesprungen, als Papa und Astan sich beballerten, um damit den Move der Mutter zu erzwingen, die sich schützend vor das Kind warf, um Astans Kugel abzufangen? Eben!) wie die Forderung eines 16-jährigen Mädchens nach Blutrache (»Verreggen«). Vor dem Hintergrund wirken die Schießübungen am Ende, die sich das 16-jährige Mädchen wünscht, beunruhigend. Judith Rakers muss derweil einige Male bang blicken – und am Ende darf auch Thomas Roth noch mal sich selbst spielen, die Schleichwerbung fürs Eigene sprengt in dieser Folge jede Grenzen.

Immerhin scheint ein Ende absehbar: Anfang Februar kommt der fünfte Tschiller-»Tatort« – und zwar gleich ins Kino (Größe!). Danach dürfte Schluss sein – mit Tschillers Tod, einem Schimmi-gleichen Flug über Istanbul oder der Heirat von Astan und Tschiller. Und das Beste, was dem NDR danach passieren könnte, wäre wohl das Nachfolgerduo Yalcin Gümer (Fahri Yardim) und Ines Kallwey (Britta Hammelstein), die auch mal wieder außerhalb der eigenen vier Wände ermittelten.

Eine Selbstbeschreibung, mit der man auf Stehpartys reüssieren kann:
»Ich kann Dich denken hören.«

Ein Satz, der aus Kollegen Freunde macht:
»Ich habe zuerst gefragt.«

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