Der befeuerte Zweisilber: Leben

Peter Handkes Aufsätze und Reden: »Tage und Werke«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir leben im unerbittlichen Erklärungszeitalter. In allen Hintergründen lauern Terminologen. Die Experten, die Kritiker. Wo einst der Durchdrungene etwas galt, besetzten Eindringlinge die Plätze. Der Spötter, der nur Unflat stapelt; der Ironiker, der nie Jean Paul las. Das Schauen hat nur noch dort Geltung, wo es verspricht, Über- und Durchblick zu bieten. Sprach der Romantiker noch heißwünschend vom Offenen, so spricht die Moderne kalt von Entschlüsselung oder Enthüllung. Jedermann ist in der Öffentlichkeit zuhaus und zugleich isoliert. Kommunikation, Austausch? Das ist: unter Strom stehen, der aber kaum Erleuchtung bringt, sondern uns zu Armleuchtern eines fruchtlosen Diskurstheaters macht. Das ewige Muster, das längst einen neuen kaffeekalten Krieg eingeleitet hat: Auf erledigte Überzeugungen und beerdigte Lehre folgte stets eine Überzeugungsleere, die sich von vorheriger Geschichtemacherei zwar abstieß, sich aber fatal gierig die verrosteten Posaunen und die alten Pauken überschreiben ließ.

Gegen solches trübe Denken tut alles gut, was keine Vorherrschaft assoziiert. Worte so ganz anderer Gemütsart, andere Grund-Töne also für diesen, wie Peter Handke das sagt, »befeuerten Zweisilber ›Leben‹«. Der Dichter schreibt: »Hören wir endlich einander an, statt uns aus feindlichen Lagern anzubellen und anzuheulen ... Verbreitern wir die Öffnung. Auf dass die Bresche nie wieder von schlimmen oder vergifteten Worten verstopft werde. Hinaus böse Geister, verlasst endlich die Sprache.« Er schreibt das gegen diejenigen, die ihn seit Jahren wegen Jugoslawien anranzen, aber das Formulierte ist hochzurechnen auch auf Handkes betörende, innige Art, über Künstler zu schreiben, über Kunstwerke, über Rolf Dieter Brinkmann etwa, über Alfred Kolleritsch, Friederike Mayröcker, über Claus Peymann (den »Westerntheatermann« und »Hervorrufer«). Zu lesen jetzt im Band »Tage und Werke. Begleitschreiben« - Betrachtungen, Porträts, Preisreden aus mehreren Jahrzehnten. Eine Schulstunde, nein, eine Schul-Freistunde für jenen Stoff, der nichts mit Unterricht, mit Unterrichtung, gar Unterweisung zu tun haben darf: die Liebe zur Kunst - als einer Liebe zum eigenen Leben, gesehen mit fremden Augen.

An Leinwänden des Slowenen Gustav Janus beschreibt Handke die Pflicht des Malers zu »Raumtreue«: Der Raum schlägt zurück, wenn seinen Regeln nicht gefolgt wird. Folgerichtig geht der Maler mit »Raumangst« ans Werk. So, wie den wahren Schreibenden Sprache überkommt, er ist also nicht gewappnet, es sei denn, er ruft Sprache ab - aber was wäre das für ein Schreiben! Was wir im Leben abrufen, sollten wir immer abklopfen nach Partikeln des Absterbens, die daran kleben. Jenes Abrufbare, das die meisten Gesinnungen und Gewerke steuert, es ist Angst vor Lebendigkeit, eine Angst, die Linien zieht, weil sie unfähig ist, Sternbilder zu malen.

In einem Text über den Schriftsteller Nathaniel Hawthorne und dessen Frau Sophia im US-amerikanischen Concord des 19. Jahrhunderts schreibt Handke über Glück. Es ist Geborgenheit nicht im großen Ganzen, sondern im kleinen Ganzen. Als dem eigentlich Großen. »Eine Welt ohne Gewolltheit oder gar eine Idee.« Sofort hast du, weiterlesend, ein nicht zu sättigendes Bedürfnis nach Bäumen, in deren Kosmos man nur immer eintreten will wie in eine Kirche. Eine Kirche, in der unser Kramen und Kraxeln und Kümmern und Kungeln und Kriegführen und Kaspern fürs Wohl der Welt und fürs eigene Wohl plötzlich absolut lachhaft wird. Lachhaft auch, dass wir Rettung gar zu motorisch mit Politik oder politischer Bewegung gleichsetzen. Uns retten nicht die Aktivitäts-Ameisen, nicht die Bürokraten, Papierwälzer, Aufrufer, Gegentrommler, Mahnwächter und Funktionäre. Das sind durch die Bank nur Teilintelligenzen. Es ist einzig die Kunst, die rettet, und zwar die Kunst, sich selber just in jenen Kleinigkeiten, die alltäglich so plagen, immer wieder neu zu erfinden - als Heiligsprecher dieser Kleinigkeiten. Wenn du das konsequent und konzentriert tust, dann erlebst du Momente, in denen die Geringfügigkeiten des Daseins dich größer machen als jene politische Masken vom Dienst, denen du gewohnheitsmäßig gestalterische Kraft beimisst. Was Handke an Büchern liest, an Bildern schaut, an Menschen beschreibt (ob den sorbischen Dichter Kito Lorenc, sein Heimatdorf Griffen oder das Briefverhältnis zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig) - es ist ein Staunen, ein Schöpfen ganz in Scheu; Wahrnehmung und Wahrheitsgebung ohne Scheinwerfersucht, ohne Lichtzwang; alles eher ein »Hintergrundleuchten im Universum, zwanglos«.

Freilich bleibt Handke an einigen Stellen auch der Entflammbare, der Polemiker. Über den Dichter Tomas Tranströmer schreibt er: »Ihn interessiert nicht dieses üblich gewordene Internationale, wenn ein mongolischer oder russischer oder indonesischer Autor so schnittig schreibt wie Philip Roth.« Herta Müllers Literatur bezichtigt er einer »vorgefassten gefahrlosen Methodik«. Tellkamp ist »Geschwafel«. Da ist der späte Dichter frech und frei wie der frühe Autor - beigefügt sind dem Band Handkes Radiokritiken von 1964 bis 1966, und da heißt es über Brecht, dessen frühe Poeme seien »verzerrt und aufgetrieben wie seine Wasserleichen«. Und einmal mehr kann man Handkes Plädoyer für serbische Würde und jugoslawisch grundierte Erinnerung (in Gegenwehr zu bösartigen Angriffen anlässlich des Heine- und des Ibsen-Preises) als Beispiel lesen - gegen jedwede Täter-Opfer-Einseitigkeit, gegen eine westliche Arroganz der Deutungs- und Reglementierungshoheit.

An einer Stelle heißt es: »Die Kunst aber lässt sich nichts vorschreiben, sie lässt sich keine moralischen Gebote geben, und keineswegs ist es ihre Aufgabe, das Bestehende zu erhalten.« Keinen Staat, keine Gesellschaft, nicht mal die Bilder der Vergangenheit. Nicht die jeweils aktuellen Machtpositionen oder -Oppositionen, nicht die geltenden Alternativlosigkeiten und auch nicht die bemühten Alternativen. Nicht Plan A oder B oder C oder wie groß das Alphabet der Theoriejunkies noch sein möge. Ein Schriftsteller, das ist Dienst wider »die hohlen Normsprecher«, wider all das, was im Urteil einhellig sein will. Der Dichter naturgegeben als Wagehals, der sich von außervernünftigen Gründen mitreißen lassen muss; der eisern zart die Arglosigkeit verteidigt, mit der er sein Gefühl übersteigert. Das erst ermöglicht, gegenüber den Fanatikern der Klarsicht ein freier, so ganz anders wirkender Mensch zu bleiben. Und so sagte er über die Wahl Barack Obamas: Bei ihm »kann die Welt nicht bloß erst einmal erleichtert sein und aufatmen, sondern auch frisch durchatmen«. Trotz des Wissens um »Sach-, Geld- und Machtzwänge« (wer weiß das denn nicht!) ist da bei Handke eine menschliche Regung, die nicht so eisig ungerührt Analyse und Richterei spielt, als sei man klug. Es ist da ein »Seelen-Innenton«, wie ihn viele, so überwältigend, einst nur bei Gorbatschow verspürten. Und sich bewahrten.

Schriftsteller sind Forscher. Ihr Anliegen ist das Aufspüren nichtberuhigender, gefährlicher Substanzen. Die gefährlichste Substanz bleibt die Fähigkeit, ergriffen zu werden. Gar einverstanden damit zu sein, ergriffen zu werden. Von aller Kreatur. Auch vom Menschen. Manchmal - sei hinzugefügt (das Buch macht Lust zu so etwas) - sogar von Angela Merkel. Es gilt also: »Mitliebender« zu sein, »einer, der mitliebt mit seinen Leuten, mitliebt mit dem Land, selbst den kleinsten Dingen da, gerade da«. Auf die Art verändert Literatur die Welt (in einem selbst). »Etwas, um als wahr zu erscheinen - kann doch nicht schön genug sein?« Plötzlich, zum Beispiel, blickt man auf aus einem Handke-Buch, weil man einen Vogelschwarm sieht - und meinte man bislang, diese Vögel flögen über einen hinweg, so ist einem nun, als würde man gesegnet.

Peter Handke: Tage und Werke. Begleitschreiben. Suhrkamp, 287 S., geb., 22,95 €.

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