Die Herren des Rings
Zwei ehemalige Ostberliner Boxer führen eine Trainingsgruppe für Kinder und Jugendliche. Ihr Motto: Gewalt - nein danke!
Eigentlich hatte er nie den Traum, Boxer zu werden. Aber als Horst Gülle 1950 zur Volkspolizei ging, wog er mit 18 gerade mal 118 Pfund und sein Einsatzleiter war Berliner Meister im Halbschwergewicht. Er nahm ihn mit zum Boxtraining, um »aus ihm einen Kerl zu machen«. Manchmal nehmen große Leidenschaften ganz unspektakulär ihren Anfang.
Mit 74 Jahren ist Horst Gülle schon längst im Rentenalter, aber der Begriff Rentner will nicht passen. Das liegt wohl auch daran, dass er sein ganzes Leben diesem Sport verschrieben hat: Der Boxring ist seine Welt. Er ist kein Mensch, der lange in Erinnerungen schwelgt. Es ist ihm beinahe unangenehm, die Alben mit den Fotos und Zeitungsausschnitten zu zeigen. »Viele Artikel handeln von mir, jeder ist ja auch ein bisschen eitel«, sagt er.Der elegante grauhaarige Herr in schwarzem Hemd und schwarzer Hose ist ein Mann, der nicht sich wichtig nimmt, sondern die Menschen, für die er sich einsetzt. Acht Jahre war er erfolgreich beim Sportklub Dynamo Berlin aktiv, boxte auch in der Nationalmannschaft der DDR. Aber ihm war schnell klar, was er wirklich wollte, denn sein Trainer war sein größtes Vorbild: »Die Jungs betreuen, das möchtest du auch mal machen.« Als er von Dynamo das Angebot bekam, genau das zu tun, hörte er bei der Polizei auf und machte im Fernstudium seinen Abschluss als Trainer. Bis 1975 baute er als Cheftrainer Boxchampions wie Peter Tiepold auf, den Olympiadritten von 1972.
Wer unfair ist, bekommt Ärger
Auch heute noch betreut er Nachwuchstalente, die meisten von ihnen kommen ursprünglich aus Russland und wohnen in den Plattenbauten von Hellersdorf. Gute 30 Minuten braucht Horst Gülle mit dem Auto von seiner idyllischen Wohnsiedlung bis zu den Jungs vom Boxring Eintracht Berlin. Drei Mal in der Woche ist er vor Ort und das seit mehr als zehn Jahren. Der Unternehmer Harald Lange, der durch seine Firma in Hellersdorf den tristen Alltag der Jugendlichen kannte, rief Mitte der 90er Jahre das Projekt »Boxen statt Gewalt« ins Leben. Der Freund aus alten Boxtagen musste Horst Gülle nicht lange überreden, einzusteigen.
Stramm stehen sie nicht, aber in einer Reihe. Mit einem energischen »Sport frei!« beginnt für ein gutes Dutzend Jungen das Training an einem Freitagnachmittag. Schon bald perlen die Schweißtropfen an den Schläfen der Teenager, während sie die Sandsäcke bearbeiten. Graffiti mit Motiven kämpfender Boxer zieren großflächig die Wände der Turnhalle, daneben der Schriftzug »Gewalt - nein danke!«. Ein Pfiff vom Trainer und die 12- bis 15-Jährigen können einen Moment verschnaufen, die Gesichter entspannen sich. Beim nächsten Pfiff geht es mit voller Kraft weiter, mit der Rechten, mit der Linken. Theo, ein zarter Zwölfjähriger, der kürzlich deutscher Jugendmeister geworden ist, sagt in einer kurzen Pause: »Mir macht es Spaß, gegen andere zu kämpfen. Es ist ein cooles Gefühl, im Ring zu stehen und zu gewinnen.«
Das Klischee vom trüben östlichen Rand der Stadt mit grauen Betonungeheuern passt nicht auf Berlin-Hellersdorf. Stattdessen fünfstöckige, pastellfarbene Plattenbauten, auf deren Balkonen Geranien um die Wette blühen, grüne Höfe und saubere Spielplätze. Hier kapitulieren bislang keine Lehrerkollegien vor Chaos und Gewalt wie in der Neuköllner Rütli-Schule. Die große Minderheit des Bezirks, die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, lebt eher angepasst und unauffällig. Doch in der deutschen Gesellschaft angekommen sind »die Russen« nicht, wie die Alteingesessenen sie nennen. Man bleibt unter sich. Viele sprechen kaum Deutsch und haben keine Arbeit. Die Folge: Die Gewaltbereitschaft ist hoch, besonders unter jungen Männern.
Boxen kann da helfen, glaubt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck: »Es gibt einige Jugendliche, die sehr aggressiv sind, für die ist das genau das Richtige. Das Schlagen ist in Regeln eingebettet und die Aggressionen werden kanalisiert. Für sehr sensible oder neurotisch gestörte Jugendliche, die selbst nie schlagen, ist so ein Ansatz aber völlig ungeeignet.« Das Wichtigste sei, dass Foulspiel beim Boxen nicht akzeptiert wird. »Wenn im Boxkampf jemand unfair zugeschlagen hat, bekommt er sofort Ärger mit den anderen. Nur so lässt sich wirklich etwas erreichen«, meint Struck.
Horst Gülle steht neben dem erhöhten Boxring und schaut den Jungen beim Schwitzen zu. Er ist kein studierter Pädagoge, aber durch seine lange Praxis ist er zu ähnlichen Ansichten wie Struck gelangt. »Im Sparring, dem Übungskampf, kann man als Trainer erzieherisch wirken und sagen: Pass auf, der ist schwächer, hau nicht so hart zu, lass den ruhig mal besser aussehen, damit er Selbstvertrauen kriegt«, sagt er und geht in das kleine Trainerbüro, denn ihm ist aufgefallen, dass heute einige fehlen. Er ruft zu Hause an und fragt nach. Als Cheftrainer kümmert er sich nicht nur um die sportliche Organisation, um die Reisen zu Wettkämpfen im ganzen Bundesgebiet und ins Ausland, bei denen er immer dabei ist.
Wenn einer seiner rund 100 Schützlinge das zweite Mal sitzen zu bleiben droht, redet Horst Gülle mit den Lehrern. Werden lange Partynächte wichtiger als das Training, versucht er in engem Kontakt mit den Eltern, die oft selbst überfordert sind vom Leben in Deutschland, seine Jungs wieder zu motivieren. Mit Erfolg: Jedes Jahr kommt mindestens ein deutscher Meister vom Boxring Eintracht Berlin.
Nach dem Training der Kleinen betreten die 15- bis 17-jährigen die Halle. Horst Gülle strahlt eine freundliche Autorität aus, die muskulösen Jungen haben Achtung vor ihm. Man sieht es an der Art, wie sie ihm die Hand geben. Aber er weiß, dass er nur wenig Einfluss darauf hat, was außerhalb der Boxhalle passiert. »Es gibt Fälle, wo man hört, dass sich jemand geprügelt hat, es ist auch mal einer straffällig geworden.« Er spricht von einem Jungen, der im vergangenen Jahr einen Raubüberfall auf offener Straße begangen hat. Die Fäuste kamen dabei nicht zum Einsatz, sondern eine Waffe. Fast drei Monate war der gebürtige Kasache in Jugendhaft, seitdem ist er auf Bewährung frei. Ein schlaksiger 16-Jähriger, der nur einsilbig antwortet und dessen Blick diese Mischung aus Ablehnung und Unsicherheit in sich trägt, die Jungen in seinem Alter eigen ist. Einmal in der Woche muss er jetzt zum Anti-Gewalt-Training, beim Boxen darf er wieder mitmachen: »Hier lasse ich meine Energie raus.«
»Wir geben den Jungs eine Struktur«
Der Wettkampf ist in vollem Gang und die Halle gut besucht für einen warmen Samstagnachmittag. Ein Boxverein aus Kassel ist zum Vergleichskampf angereist. Viele Männer sind um den Ring versammelt, einer von ihnen ist Harald Lange. Der gebürtige Mecklenburger hat nach der Wende ein erfolgreiches Unternehmen für Gebäudemanagement aufgebaut und ist Hauptsponsor des Projekts. 70 Prozent der Ausgaben finanziert er selbst, den Rest schießen Firmen aus seinem Umfeld zu. An Bushaltestellen und in Asylheimen hat er damals die ersten Boxwilligen gefunden.
Es belustigt den drahtigen Ex-Boxer bis heute, wie entsetzt eine Lehrerin aus Charlottenburg reagierte, die das Training im vorigen Jahr besuchte. »Zu autoritär, zu militärisch«, war ihr Urteil. Lange hat dazu seine eigene Meinung: »Es kommen nur noch die Kinder durch, die Halt zu Hause haben. Aber bei vielen Familien ist das eben nicht mehr der Fall. Deshalb haben die Rechtsradikalen so einen Zulauf, die bieten Struktur. Wir geben auch Struktur, aber in eine ganz andere Richtung.« Der 52-Jährige hat in der Nähe der Jury Platz genommen und feuert seine Jungs lautstark an. Je älter die Wettkämpfer werden, desto härter geht es zur Sache. Ein Boxer brauche eine starke Persönlichkeit, kommentiert Lange: »Im Ring kann man sich nicht verstecken. Da ist man ganz allein.«
Lange, ganz Unternehmer, hat noch viel vor. Er würde gern an einer Hellersdorfer Schule den Sport stärker fördern und will einen Weltmeister aus seiner Trainungsgruppe aufbauen. Auf Talentsuche geht er nicht nur in der Stadt, sondern auch in den umliegenden Bundesländern. Ein 16-jähriger mit einer Größe von 2,12 Meter aus Mecklenburg ist die jüngste Entdeckung. Lange weiß, beim Publikum kommt das an. Nikolai Walujew, der »Russische Riese«, hat großen Erfolg in Europa wie in den USA. Zum Sauerland-Profiboxstall, der Walujew unter Vertrag hat, besteht Kontakt. Pate der Nachwuchsboxer ist übrigens Wolfgang Behrendt, 1956 der erste Olympiasieger der DDR. Der 70-Jährige schaut des öfteren bei Eintracht vorbei und gibt den Jungen Tipps.
Auch Horst Gülle sieht sich nach Nachwuchs um. Immer nach den Sommerferien geht er in die dritten und vierten Klassen der Grundschulen in Hellersdorf und Marzahn und wirbt dort für seinen Sport. Er ist zufrieden mit der Truppe, die er aufgebaut hat. Es seien bestimmt keine Engel, aber: »Ich den...
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