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Der demokratische Aufstand

Blockupy, DiEM und 2025: Über die Notwendigkeit einer neuen ultraeuropäischen Offensive

  • Mario Neumann und Sandro Mezzadra
  • Lesedauer: 9 Min.
In Zeiten einer existenziellen Krise der EU sind Kämpfe für Demokratie dringend notwendig. Weder die Rückkehr zum Nationalismus, noch der Rückzug ins Lokale sind eine Lösung: Eine linke Initiative muss ultraeuropäisch sein!

Gar nichts ist vorbei – außer der Katerstimmung. Ein halbes Jahr nach #thisisacoup - dem deutschen Putsch gegen die griechische Alternative – sucht die europäische Linke nach einer neuen politischen Strategie. Dass es dabei einer grundsätzlichen Neubegründung bedarf, die den Bezugsrahmen der Aufstände gegen die Austeritätspolitik in Südeuropa überschreitet, stellt die große Herausforderung dar.

Es überrascht daher wenig, dass sich derzeit die Konferenzen und Kongresse häufen, die allesamt die Frage nach einer europäischen Strategie der Linken und ihrem Verhältnis zur EU ins Zentrum rücken. Von den verschiedenen Plan B-Initiativen oder der gewerkschaftlichen Initiative »Europa neu begründen« bis DiEM25 und Blockupy gibt es eine neue Konjunktur europäischer Fragestellungen. Wie aber kann ein europäischer Bezugsrahmen des Widerstands und der Offensive hergestellt werden?

Es ist die Gegenwart des »Griechischen Frühlings« und des »Sommers der Migration«, von der wir bei der Beantwortung dieser Frage ausgehen. Dabei möchten wir vor allem deutlich machen, dass – entgegen weit verbreiteter Einschätzungen – beide Erfahrungen die Notwendigkeit einer europäischen Offensive unterstreichen und gerade nicht zu einer falschen Rückbesinnung auf einseitige nationale oder lokale Strategien führen dürfen. Eine linke Offensive kann nur ultraeuropäisch sein.

Für eine neue europäische Initiative

Wir sollten uns klar machen: Eine neue europäische Initiative der Kämpfe ist dringend notwendig in einer Lage, in der die europäische Union durch die Verkettung von multiplen Krisen einen Prozess der Fragmentierung erlebt. Man spricht nicht ohne Grund von einer Tendenz zur »Desintegration« der Europäischen Union. Es ist eine Tatsache, dass die EU, so wie wir sie in den letzten zwei Jahrzehnten gekannt haben, vor einer existentiellen Krise steht.

Es ist sogar schwierig geworden, einheitliche Pläne der »Herrschenden« in Europa zu identifizieren und dagegen zu mobilisieren. Die Kontinuität der Austerität, die eindeutige Botschaft der europäischen Eliten im Kampf um Griechenland ist als politische Substanz nicht ausreichend, um die Bedingungen für das zukünftige politische Management des Integrationsprozesses in Europa zu stiften. Neue Spaltungen, nicht nur diejenige zwischen Nord und Süd, sondern auch diejenige zwischen Ost und West und der Konflikt um Großbritannien stellen die variable Geographie dieses Prozesses in Frage.

Rückkehr der Nationen

Das ist das Szenario, in dem neue und alte Rechte in vielen europäischen Ländern wachsen und die etablierten nationalen wie europäischen Mächte unter Druck setzen. Die Stunde der Nationen scheint wieder geschlagen zu haben in Europa. Angesichts dieser Situation müssen wir in einem rebellischen Sinne europäisch sein: Die materielle Verfassung der Europäischen Union würde sicherlich durch eine weitere Intensivierung der Renationalisierungsprozesse tiefgreifend verändert. Diese Prozesse stellen aber den neoliberalen Kern der europäischen Politiken nicht in Frage.

Nicht nur die transnationale Macht des Finanzkapitals, auch die Kräfte des Nationalismus und des Faschismus können nicht auf der Grundlage einer nationalen (und sogar einer traditionellen »internationalistischen«) Politik geschlagen werden. Nationale politische Entwicklungen können Teil einer neuen Strategie der Linken sein - aber nur wenn sie unmittelbar die europäische Frage stellen, das heißt wenn sie darauf zielen, einen Bruch auf kontinentaler Ebene zu produzieren.

Griechenland und die Politisierung der EU-Architektur

So richtig es ist, dass die griechische Regierung die europäischen Kräfteverhältnisse unterschätzt hat, so falsch ist es, daraus zu folgern, dass Europa nicht der richtige Schauplatz dieser Auseinandersetzung gewesen sei. Es waren schließlich europäische Politiken und Machtverhältnisse, die die griechische Situation produziert haben!

Die europäische Architektur der Mächte wurde während der Auseinandersetzungen um Griechenland in ungekanntem Ausmaß politisiert. Die Eliten Europas wurden aus den Berliner, Frankfurter und Brüsseler Hinterzimmern ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Insofern lässt sich durchaus davon sprechen, dass der griechische Frühling nicht nur eine Niederlage für die europäische Linke war, sondern auch eine neue Möglichkeit einer transnationalen politischen Initiative produziert hat.

Die Verfassung Europas, die Demokratiefrage, ist ein populäres Thema geworden. Die Krise der Repräsentation hat sich wirksam auf die Mechanismen und Institutionen der EU ausgeweitet. Die europäische Demokratiefrage erschließt sich heute unmittelbar (das zeigt nicht zuletzt das große Interesse an der DiEM25-Gründung).

Das Lokale: Politik der Solidarität

Gleichzeitig sollten uns die Erfahrungen des »Sommers der Migration« nicht dazu verleiten, das Lokale als ausschließlichen Ort einer linken Strategie zu überhöhen. So sehr uns die spontanen und neuen Bewegungen davon überzeugen, dass der Ort der Schaffung neuer Subjektivitäten das Soziale und damit auch das Unmittelbare der alltäglichen Umgebung ist, so sehr sehen wir ebenso, dass der Ort einer umfassenden politischen Strategie heute nur der transnationale Raum sein kann.

Die Grenzen des Lokalen können jedoch nur dann sinnvoll bestimmt werden, wenn gleichzeitig seine besondere Qualität erkannt wird. Es ist ein Kennzeichen der Kämpfe der letzten Jahre, dass Momente des Aufbruchs nicht um politische Programme zum Leben erwachen, sondern an Orten der sozialen Begegnung und der gelebten Solidarität. Das Gemeinsame zu schaffen, eine andere Subjektivität zu ermöglichen, ist immer auch und in erster Linie eine Frage der realen sozialen Beziehungen; etwas, das im Alltag und vor der eigenen Türe stattfindet und sich nicht erst seit dem »Sommer der Migration« zweifellos als Politik der Solidarität bezeichnen lässt .

Denn Solidarität ist alles andere als – wie so oft behauptet - »unpolitisch«: Sie stellt die Vereinzelung des individuellen Schicksals genauso in Frage wie die Trennung zwischen »uns« und den »Anderen« und gibt damit auf der Ebene des Alltags eine gelebte Antwort auf die nationalistischen und rassistischen Spaltungen – ganz gleich, ob das »politische Bewusstsein« dem direkt folgt. In der praktischen und gelebten Solidarität liegt ein konkretes utopisches Moment. Der Sommer der Migration hat uns gezeigt, dass es immer eine Alternative gibt, wenn die Menschen sich zusammenschließen.

Wir müssen also fragen, wie sich eine organische Verbindung von lokaler Praxis (und ihrer Heterogenität) und einer transnationalen politischen Initiative herstellen lässt, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen und das Gemeinsame jenseits der unmittelbaren Erfahrung zu verallgemeinern. Wie kann in Zeiten der gelebten Solidarität eine Politik der Solidarität aussehen? Wie können das konkrete Gemeinsame, die neuen sozialen Beziehungen, die alltägliche Solidarität übersetzt werden in eine transnationale politische Initiative, ein »abstraktes Gemeinsames«?

Die Grenzen der Städte

Die Frage der produktiven Überschreitung des lokalen Horizonts stellt sich aber nicht nur auf Grund der potentiell gesteigerten Wirksamkeit einer politischen Konstruktion, die den unmittelbaren Erfahrungsraum des Lokalen überschreitet. Provokativ und zugespitzt können wir behaupten, dass in Europa heute die lokale Dimension als solche nicht mehr existiert. Dies ist die Erfahrung jeder kommunalen Linksregierung, die sich mit Mächten und Grenzen auseinandersetzt, deren Grundlagen weit über jede lokale Dimension hinaus bestehen. Und es bezeichnet auch die gegenwärtige Problematik, dass der gegenwärtigen Restrukturierung und Militarisierung des Grenzregimes auf politischer Ebene trotz der aktuellen Bewegungen nichts Substantielles entgegen gesetzt wird.

So bizarr es klingt: Früher oder später stoßen auch vermeintlich lokale Kämpfe auf die Frage einer europäischen Strategie – außer sie reduzieren sich selbst auf diejenigen Fragen, die tatsächlich im lokalen Raum ausgetragen werden und lassen damit die grundsätzliche Architektur des Krisenregimes unangetastet. Die Kluft zwischen der Heterogenität der Kämpfe und der europäischen Dimension konkret zu politisieren, ist die grundlegende Aufgabe in der gegenwärtigen Situation, die darüber hinaus durch eine anwachsende geographische Fragmentierung gekennzeichnet ist.

Der demokratische Aufstand

In welcher Weise lässt sich aber ein solcher transnationaler Bezugsrahmen denken? Wir denken, dass die Kämpfe der letzten Jahre in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache sprechen: Ein gesellschaftlicher Antagonismus wird sich heute in Europa um Fragen der Demokratie artikulieren.

Aber was heißt heute Demokratie? Kann die Demokratiefrage einfach als eine Frage von formalen Verfahren, konstitutionellen Garantien und politischer Repräsentation verstanden werden? Bedeutet ein demokratischer Aufstand in Europa, dass er sich erschöpft in der Hoffnung auf eine Demokratisierung der EU-Institutionen? Wir denken, dass dies nicht der Fall ist.

Die Entleerung der repräsentativen Demokratie nimmt heute in Europa besonders dramatische Züge an. Das gilt sowohl auf der Ebene der Nationalstaaten wie auf der Ebene der Europäischen Union. Repräsentative Institutionen sind heute einerseits mit einer governance konfrontiert, die nach einer ganz anderen Logik vorgeht, und andererseits mit einem »Kapital-Parlamentarismus«, der die Vermittlung der Demokratie kontinuierlich herausfordert und seine eigene Politik direkt diktiert.

Das heißt, dass Demokratie heute nur als Überschuss hinsichtlich der real existierenden Institutionen verstanden kann, als Überschreitung dieser Institutionen von innen wie von außen, in vielfältigen, auch in sich konfliktiven Prozessen ihrer Demokratisierung. So verstanden, ist die Kombination von heterogenen (institutionellen wie außerinstitutionellen) Akteuren und Formen der politischen Initiative und Kämpfe die entscheidende Bedingung, um die Demokratiefrage auf wirksame und innovative Weisen zu stellen.

Eine europäische Kampagne

Eine neue europäische Strategie der Linken muss zunächst dazu fähig sein, die europäische Dimension von lokalen Erfahrungen und Kämpfen hervorzuheben und politisch zu interpretieren. Die Produktion von Resonanzen zwischen ihnen und die Koordinationsarbeit – von dem systematischen Austausch von Kenntnissen hin zu der Bildung von Netzwerken von »rebellischen Städten« – können die Grundlagen für gemeinsame europäische Kampagnen bilden, hinter denen die Materialität einer alltäglichen Politik steht und die deshalb dazu fähig sein können, die europäischen Institutionen direkt und wirksam anzugreifen.

Die Vervielfältigung solcher Resonanzen und Vernetzungen ist eine grundsätzliche Bedingung, um das Problem der politischen Form einer transnationalen Aktion in Europa neu zu stellen. Diese politische Form existiert nicht, sie muss erfunden werden und kann nicht aus der Summe der verschiedenen lokalen Initiativen und ihrer Koordinierung entspringen. Transnationale Netzwerke wie Blockupy oder DiEM 25 tragen zu der Suche nach dieser politischen Form bei, indem sie einerseits das Element der Wirksamkeit des Konfliktes und andererseits die Frage der Bildung einer Gegenhegemonie in Europa hervorheben.

Die eigentümliche europäische Initiative muss auf dieser Grundlage entwickelt werden – innerhalb und außerhalb Europas, in und gegen die EU, in den Parlamenten und auf der Straße. Nur eine Vielfalt von Brüchen und Allianzen, die Erfindung von neuen politischen Formen – an einer Vielzahl von Orten intensivierter Rebellion gegen Neoliberalismus und Nationalismus – können die Bedingungen für Erfolge auf europäischer Ebene schaffen. In der Zeit des »Interregnums« kann das Spannungsfeld von Aktivismus und zivilgesellschaftlicher Polarisierung den Rahmen für die Bildung eines europäischen Blocks bieten, der sich dann auf den verschiedenen Ebenen der politischen Initiative artikulieren wird. Ein Block, der in seinen vielfältigen Erscheinungsformen ein einheitliches Ziel besitzt: die Eröffnung einer Offensive gegen das neoliberale Regime der Angst, Verzweiflung und Vereinzelung in Europa. Die erste Bedingung einer solchen politischen Strategie aber bleibt, wie eh und je, der rebellische Ungehorsam. Ohne Rebellion keine Strategie.

> > Die Langversion des Beitrags ist in der Zeitschrift Luxemburg nachzulesen.

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