»Vom Regen in die Jauche«

  • Hansjürgen Rosenbauer
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.

Der Westen leuchtet - aber das Licht ist kalt. BRD und DDR - zwei Kulturen werden eine? Zwei Vorträge über die Schwierigkeiten dabei auf dem Symposium der Linkspartei KULTUR NEU DENKEN in Bad Frankenhausen

I. Erleuchtung
Wenn der Westen leuchtet, das Licht aber kalt ist, war dann der Osten dunkel, aber kuschelig? Auch wenn mir immer wieder erzählt wird, wie viel menschlicher im Umgang, wie viel solidarischer im täglichen Miteinander es in der DDR zugegangen sei, so richtig kuschelig kann es nicht gewesen sein. Einiges spricht jedenfalls dagegen: Stasi, Selbstschussanlagen, demokratische Wahlen mit 98 Prozent Zustimmung, verbotene Filme, ungedruckte Bücher - um nur ein paar Reizworte zu nennen. Ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem rückwärtsgewandten Vergleichen von Deutschland Ost und Deutschland West. Das mag daran liegen, dass ich seit 15 Jahren im deutschen Osten lebe und mich gemeinsam mit den Ostdeutschen darüber aufrege, wenn bei einer historischen Rückschau während einer Filmpreisverleihung der DDR-Film entweder gar nicht oder nur als Fußnote vorkommt. Das mag daran liegen, dass mich die Ignoranz vieler westdeutscher Bekannter und Kollegen stört, für die Ostdeutschland nach wie vor ein fremdes Land ist, das dem Westen auf der Tasche liegt und von dem sie im günstigsten Falle Berlin-Mitte und die Kaiserbäder an der Ostsee kennen. Das mag aber auch daran liegen, dass ich das Schönreden der Vergangenheit, wo alles einfacher, überschaubarer und doch eigentlich gar nicht so schlecht, eben »kuscheliger« war, nur noch schwer ertragen kann. Das mag daran liegen, dass ich nicht nachvollziehen kann, warum ostdeutsche Autorinnen oder Regisseure die Deutungshoheit über DDR-Geschichte ohne öffentlich erkennbaren Widerstand abgeben ...
»Der Westen leuchtet, aber das Licht ist kalt.« Dazu gibt es noch eine andere Gegenposition. Heiner Müller schrieb sie mir 1992 als Widmung in seine Autobiographie: »Ex oriente lux - vorausgesetzt, man kann seine Stromrechnung bezahlen!« Ich war damals Intendant des neuen, eher ungeliebten ARD-Senders in Potsdam, der bei seiner Gründung noch »Rundfunk Brandenburg« hieß. Nur mit Mühe konnten wir den Rundfunkrat dazu bewegen, den Namen analog zum Westdeutschen-, Norddeutschen- oder Mitteldeutschen Rundfunk in »Ostdeutscher Rundfunk - ODR« abzuändern. Die Landesregierung unter Manfred Stolpe machte dann »Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg - ORB« daraus. Der Begriff »Osten« war vor 15 Jahren für die meisten Ostdeutschen eben durchgängig negativ besetzt, der Hinweis auf das wiedererstandene preußische Brandenburg sollte das zumindest abmildern. Von sehr viel Selbstbewusstsein zeugte das nicht. Bei seiner Profanierung der christlichen Verheißung ging es Heiner Müller - so habe ich es zumindest interpretiert - um den Aufbruch im Osten, um die Chance, mit neuen Ideen verkrustete westdeutsche Strukturen aufzubrechen, es anders, besser zu machen - nicht nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es ging darum, der selbstzufriedenen, Regeln und Maßstäbe vorgebenden Bonner Republik zu zeigen, dass es auch anders geht. Und es ging sogar! Mit wenig Geld, dafür mit umso mehr Engagement, Kreativität und Mut zum Risiko. Und die 95 Prozent Ostdeutschen und die wenigen Westdeutschen und Westberliner beim ORB stellten fest, dass die »Stromrechnung« durchaus verhandelbar war. Innerbetriebliche Demokratie allerdings mussten wir erst gemeinsam lernen: Dass das Gegenlesen von Texten nicht per se Zensur, sondern Handwerk bedeutete. Dass Sendungen nicht in erster Linie der Selbstverwirklichung dienen sollten. Dass nicht jeder DDR-Kulturschaffende automatisch Minderheitenschutz genießen musste. Dass Verwaltungsratsvorsitzende nicht einfach im Studio erscheinen und Sendezeit verlangen konnten. Dass der Rundfunkrat Sendungen erst nach und nicht vor der Ausstrahlung beurteilen durfte. Dass auch der Ministerpräsident nicht in einer kritikfreien Zone lebte. Dass die gute alte DDR-Vetternwirtschaft, zumindest bis zur Entstehung einer neuen, nicht mehr ohne Weiteres praktiziert werden konnte. Und dass Auseinandersetzungen über die innere Verfassung eines Unternehmens, dass Auseinandersetzungen über Inhalte, über Strukturen wie Personen, ein normaler Prozess sind, dass Demokratie und Mitbestimmung immer wieder erkämpft werden müssen.
»Ex oriente lux« hatte in der Geschichte der beiden deutschen Staaten noch eine andere Bedeutung. Das für kritische Geister im Westen so verlockende ideologische Licht aus dem Osten blieb auch auf für einen im Krieg geborenen, in einer katholischen Bischofsstadt aufgewachsenen jungen »West German«, der schon im Gymnasium Bert Brecht las, als Chefredakteur der Schülerzeitung bei einem Seminar in Berlin (West) zum Schiffbauerdamm aufbrach, um Helene Weigel zu interviewen, nicht ohne Wirkung. Die DDR strahlte zeitweise als nazifreier Gegenentwurf zur Bundesrepublik. Daran störte uns vieles, aber vom Prinzip her schien er menschlicher, moralischer, fair. Für die große Mehrheit der Westdeutschen allerdings war die DDR das genaue Gegenteil, ein Beispiel für Unterdrückung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit ...
Wolf Biermann, noch dazu in Kombination mit Wolfgang Neuss, fanden wir toll. Seine Ausweisung allerdings trübte das Licht erheblich ein. Irgendetwas stimmte nicht im »besseren Deutschland«, im real existierenden Sozialismus. Dass Udo Lindenberg und andere, wenn sie nicht DDR-Kulturpolitik-kompatibel waren, nicht rein, dafür viele DDR-Bürger nicht raus durften, es sei denn, sie kamen als Regisseure an westdeutschen Theatern waren prominente Künstler, Schauspieler und Autoren, wurden ausgewiesen oder freigekauft, verstärkte unsere Zweifel. Die in der DDR-Herrschenden waren konservativ bis reaktionär, versprachen Besserung durch Unterdrückung. Sie versprachen die bessere Welt und konnten eben »die Stromrechnung nicht bezahlen«. Sie, ebenso wie die Herrschenden in anderen kommunistischen Ländern, konnten oder wollten den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, den Gegenentwurf zum Kapitalismus US-amerikanischer Prägung, nicht verwirklichen. Der Osten leuchtete, aber das Licht erlosch!

II. Was bin ich?
Im Zeitalter der Globalisierung, die ja nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle Wirkungen zeigt, auf die Suche nach der deutschen Identität zu gehen, noch dazu der kulturellen, scheint mir - pardon - zu kurz gesprungen, um nicht zu sagen, kleinkariert. Angesichts der Auseinandersetzungen mit einem fundamentalistischen Islam, angesichts eines bei allen Schwierigkeiten immer mehr zusammenwachsenden Europa, wird die Suche nach der deutsch-deutschen Identität nebensächlicher. Je rückwärtsgewandter wir uns vor allem damit beschäftigen, umso schwieriger wird es, eine verbindliche, akzeptierte »Leitkultur« des Einwanderungslandes Deutschland zu entwickeln. Wenn mich in Brandenburg jemand fragt, was ich für ein Landsmann sei, dann sage ich: Hesse, obwohl ich doch auch Rheinland-Pfälzer, Nassauer und nach über anderthalb Jahrzehnten beim WDR auch ein bisschen Kölner bin. Und im gesamtdeutschen Kontext des Zusammenwachsens gehöre ich zu den »Wossis«, zu denen, die früh aus dem Westen in die sogenannten »Neuen Länder« gekommen sind. In Deutschland, Frankreich, Polen oder im Einwandererland USA mögen solche Feinheiten von Bedeutung sein, in Afrika oder Asien spielen sie so gut wie keine Rolle. Da bin ich - ob ich will oder nicht - Europäer. Wobei wiederum die Frage zu klären wäre, was ein Ghanaer unter Europa versteht: die Europäische Union? Gehört die Türkei dazu? Ist Europa ein dominant weißes, christliches Gebiet? Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Recht, wenn sie dem deutschen Papst ein wenig voreilig verspricht, das in der Europäischen Verfassung irgendwie, irgendwo doch noch zu berücksichtigen? Deutsche, Dänen, Franzosen oder Holländer werden freiwillig-unfreiwillig zu Europäern, wenn ausländische Zeitungen unter der Rubrik »Europa« darüber berichten, und die Welt, von Feuerland oder Hongkong aus betrachtet, ein wenig anders aussieht, die Perspektiven sich verschieben ...
Europa ist die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit, das Regionale, das Europa der Vaterländer. Gerade das wäre auch der richtige Ansatzpunkt für eine Identitätsfindungsdiskussion: die Integration der Provinz, der zur Toleranzbereitschaft notwendigen Selbstvergewisserung in der heimatlichen Kuscheligkeit, die es ermöglicht, bisher Fremdes als Bereicherung, als Chance zu empfinden. So wie es für mich als Westdeutscher eine Bereicherung war, die Bücher von Jurek Becker, Christa Wolf oder Stefan Heym zu lesen, die parteitreuen und die aufrührerischen Lieder Wolf Biermanns zu hören, der mit dem Lied von der deutschen Misere nach seiner Ausbürgerung vor 30 Jahren im November dichtete: »Hier fallen sie auf den Rücken/Dort kriechen sie auf dem Bauche/und ich bin gekommen/ach! Kommen bin ich/vom Regen in die Jauche«.I. Erleuchtung
Wenn der Westen leuchtet, das Licht aber kalt ist, war dann der Osten dunkel, aber kuschelig? Auch wenn mir immer wieder erzählt wird, wie viel menschlicher im Umgang, wie viel solidarischer im täglichen Miteinander es in der DDR zugegangen sei, so richtig kuschelig kann es nicht gewesen sein. Einiges spricht jedenfalls dagegen: Stasi, Selbstschussanlagen, demokratische Wahlen mit 98 Prozent Zustimmung, verbotene Filme, ungedruckte Bücher - um nur ein paar Reizworte zu nennen. Ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem rückwärtsgewandten Vergleichen von Deutschland Ost und Deutschland West. Das mag daran liegen, dass ich seit 15 Jahren im deutschen Osten lebe und mich gemeinsam mit den Ostdeutschen darüber aufrege, wenn bei einer historischen Rückschau während einer Filmpreisverleihung der DDR-Film entweder gar nicht oder nur als Fußnote vorkommt. Das mag daran liegen, dass mich die Ignoranz vieler westdeutscher Bekannter und Kollegen stört, für die Ostdeutschland nach wie vor ein fremdes Land ist, das dem Westen auf der Tasche liegt und von dem sie im günstigsten Falle Berlin-Mitte und die Kaiserbäder an der Ostsee kennen. Das mag aber auch daran liegen, dass ich das Schönreden der Vergangenheit, wo alles einfacher, überschaubarer und doch eigentlich gar nicht so schlecht, eben »kuscheliger« war, nur noch schwer ertragen kann. Das mag daran liegen, dass ich nicht nachvollziehen kann, warum ostdeutsche Autorinnen oder Regisseure die Deutungshoheit über DDR-Geschichte ohne öffentlich erkennbaren Widerstand abgeben ...
»Der Westen leuchtet, aber das Licht ist kalt.« Dazu gibt es noch eine andere Gegenposition. Heiner Müller schrieb sie mir 1992 als Widmung in seine Autobiographie: »Ex oriente lux - vorausgesetzt, man kann seine Stromrechnung bezahlen!« Ich war damals Intendant des neuen, eher ungeliebten ARD-Senders in Potsdam, der bei seiner Gründung noch »Rundfunk Brandenburg« hieß. Nur mit Mühe konnten wir den Rundfunkrat dazu bewegen, den Namen analog zum Westdeutschen-, Norddeutschen- oder Mitteldeutschen Rundfunk in »Ostdeutscher Rundfunk - ODR« abzuändern. Die Landesregierung unter Manfred Stolpe machte dann »Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg - ORB« daraus. Der Begriff »Osten« war vor 15 Jahren für die meisten Ostdeutschen eben durchgängig negativ besetzt, der Hinweis auf das wiedererstandene preußische Brandenburg sollte das zumindest abmildern. Von sehr viel Selbstbewusstsein zeugte das nicht. Bei seiner Profanierung der christlichen Verheißung ging es Heiner Müller - so habe ich es zumindest interpretiert - um den Aufbruch im Osten, um die Chance, mit neuen Ideen verkrustete westdeutsche Strukturen aufzubrechen, es anders, besser zu machen - nicht nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es ging darum, der selbstzufriedenen, Regeln und Maßstäbe vorgebenden Bonner Republik zu zeigen, dass es auch anders geht. Und es ging sogar! Mit wenig Geld, dafür mit umso mehr Engagement, Kreativität und Mut zum Risiko. Und die 95 Prozent Ostdeutschen und die wenigen Westdeutschen und Westberliner beim ORB stellten fest, dass die »Stromrechnung« durchaus verhandelbar war. Innerbetriebliche Demokratie allerdings mussten wir erst gemeinsam lernen: Dass das Gegenlesen von Texten nicht per se Zensur, sondern Handwerk bedeutete. Dass Sendungen nicht in erster Linie der Selbstverwirklichung dienen sollten. Dass nicht jeder DDR-Kulturschaffende automatisch Minderheitenschutz genießen musste. Dass Verwaltungsratsvorsitzende nicht einfach im Studio erscheinen und Sendezeit verlangen konnten. Dass der Rundfunkrat Sendungen erst nach und nicht vor der Ausstrahlung beurteilen durfte. Dass auch der Ministerpräsident nicht in einer kritikfreien Zone lebte. Dass die gute alte DDR-Vetternwirtschaft, zumindest bis zur Entstehung einer neuen, nicht mehr ohne Weiteres praktiziert werden konnte. Und dass Auseinandersetzungen über die innere Verfassung eines Unternehmens, dass Auseinandersetzungen über Inhalte, über Strukturen wie Personen, ein normaler Prozess sind, dass Demokratie und Mitbestimmung immer wieder erkämpft werden müssen.
»Ex oriente lux« hatte in der Geschichte der beiden deutschen Staaten noch eine andere Bedeutung. Das für kritische Geister im Westen so verlockende ideologische Licht aus dem Osten blieb auch auf für einen im Krieg geborenen, in einer katholischen Bischofsstadt aufgewachsenen jungen »West German«, der schon im Gymnasium Bert Brecht las, als Chefredakteur der Schülerzeitung bei einem Seminar in Berlin (West) zum Schiffbauerdamm aufbrach, um Helene Weigel zu interviewen, nicht ohne Wirkung. Die DDR strahlte zeitweise als nazifreier Gegenentwurf zur Bundesrepublik. Daran störte uns vieles, aber vom Prinzip her schien er menschlicher, moralischer, fair. Für die große Mehrheit der Westdeutschen allerdings war die DDR das genaue Gegenteil, ein Beispiel für Unterdrückung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit ...
Wolf Biermann, noch dazu in Kombination mit Wolfgang Neuss, fanden wir toll. Seine Ausweisung allerdings trübte das Licht erheblich ein. Irgendetwas stimmte nicht im »besseren Deutschland«, im real existierenden Sozialismus. Dass Udo Lindenberg und andere, wenn sie nicht DDR-Kulturpolitik-kompatibel waren, nicht rein, dafür viele DDR-Bürger nicht raus durften, es sei denn, sie kamen als Regisseure an westdeutschen Theatern waren prominente Künstler, Schauspieler und Autoren, wurden ausgewiesen oder freigekauft, verstärkte unsere Zweifel. Die in der DDR-Herrschenden waren konservativ bis reaktionär, versprachen Besserung durch Unterdrückung. Sie versprachen die bessere Welt und konnten eben »die Stromrechnung nicht bezahlen«. Sie, ebenso wie die Herrschenden in anderen kommunistischen Ländern, konnten oder wollten den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, den Gegenentwurf zum Kapitalismus US-amerikanischer Prägung, nicht verwirklichen. Der Osten leuchtete, aber das Licht erlosch!

II. Was bin ich?
Im Zeitalter der Globalisierung, die ja nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle Wirkungen zeigt, auf die Suche nach der deutschen Identität zu gehen, noch dazu der kulturellen, scheint mir - pardon - zu kurz gesprungen, um nicht zu sagen, kleinkariert. Angesichts der Auseinandersetzungen mit einem fundamentalistischen Islam, angesichts eines bei allen Schwierigkeiten immer mehr zusammenwachsenden Europa, wird die Suche nach der deutsch-deutschen Identität nebensächlicher. Je rückwärtsgewandter wir uns vor allem damit beschäftigen, umso schwieriger wird es, eine verbindliche, akzeptierte »Leitkultur« des Einwanderungslandes Deutschland zu entwickeln. Wenn mich in Brandenburg jemand fragt, was ich für ein Landsmann sei, dann sage ich: Hesse, obwohl ich doch auch Rheinland-Pfälzer, Nassauer und nach über anderthalb Jahrzehnten beim WDR auch ein bisschen Kölner bin. Und im gesamtdeutschen Kontext des Zusammenwachsens gehöre ich zu den »Wossis«, zu denen, die früh aus dem Westen in die sogenannten »Neuen Länder« gekommen sind. In Deutschland, Frankreich, Polen oder im Einwandererland USA mögen solche Feinheiten von Bedeutung sein, in Afrika oder Asien spielen sie so gut wie keine Rolle. Da bin ich - ob ich will oder nicht - Europäer. Wobei wiederum die Frage zu klären wäre, was ein Ghanaer unter Europa versteht: die Europäische Union? Gehört die Türkei dazu? Ist Europa ein dominant weißes, christliches Gebiet? Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Recht, wenn sie dem deutschen Papst ein wenig voreilig verspricht, das in der Europäischen Verfassung irgendwie, irgendwo doch noch zu berücksichtigen? Deutsche, Dänen, Franzosen oder Holländer werden freiwillig-unfreiwillig zu Europäern, wenn ausländische Zeitungen unter der Rubrik »Europa« darüber berichten, und die Welt, von Feuerland oder Hongkong aus betrachtet, ein wenig anders aussieht, die Perspektiven sich verschieben ...
Europa ist die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit, das Regionale, das Europa der Vaterländer. Gerade das wäre auch der richtige Ansatzpunkt für eine Identitätsfindungsdiskussion: die Integration der Provinz, der zur Toleranzbereitschaft notwendigen Selbstvergewisserung in der heimatlichen Kuscheligkeit, die es ermöglicht, bisher Fremdes als Bereicherung, als Chance zu empfinden. So wie es für mich als Westdeutscher eine Bereicherung war, die Bücher von Jurek Becker, Christa Wolf oder Stefan Heym zu lesen, die parteitreuen und die aufrührerischen Lieder Wolf Biermanns zu hören, der mit dem Lied von der deutschen Misere nach seiner Ausbürgerung vor 30 Jahren im November dichtete: »Hier fallen sie auf den Rücken/Dort kriechen sie auf dem Bauche/und ich bin gekommen/ach! Kommen bin ich/vom Regen in die Jauche«.

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