Der Krieg der Reichen gegen die Armen

Vom Anfang des Klassenkampfes - Aufstand in Lyon vor 175 Jahren

Es war das Werk der Arbeiter von Paris. Sie vor allem stürmten im Juli 1830 die Barrikaden. Tausende der proletarischen Blusenmänner, überdies Studenten, Kleinbürger und Intellektuelle, bezwangen in drei Tagen des Straßenkampfes die Truppen der Staatsstreichregierung. Sie stürzten das dynastische Lilienbanner der Bourbonen und hissten die nationale Trikolore auf den Dächern des Louvre und des Königsschlosses. Im wahren Sinne des Sprichworts holten sie die Kastanien aus dem Feuer, die die zur Macht schleichende Finanzbourgeoisie des Julikönigtums verzehren mochte. Natürlich verlangten sie eine Anerkennung ihres selbstlosen Einsatzes: Arbeitsplätze, bessere Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne. Der Minister Dupin sah Louis-Philippe, den frischgebackenen »Bürgerkönig«, an moralische Pflichten gemahnt: »Wenn, wie es heute geschieht, eine Dynastie sich gründet auf den Heroismus der Arbeiter, dann muss die Dynastie auch etwas für das Wohl dieser heroischen Arbeiter tun.«

Entfesseltes Kapital
Doch es vergingen nur wenige Wochen, da proklamierte der Präfekt des Pariser Departements den Liberalismus des entfesselten Kapitals: Alle Eingaben für Lohnerhöhung und geringere Arbeitszeit seien »ungesetzlich«, sie widersprächen »dem Prinzip der Freiheit und der gewerblichen Tätigkeit«. Seitdem rauchte ein sozialer Schwelbrand, der immer wieder in Arbeiterprotesten, Demonstrationen und Streiks aufflackerte. Da legten die Machthaber den Blusenmännern die Gesetzesschlinge um den Hals. Sie erließen ein Koalitionsverbot. Die Parlamentsmajorität fasste einen Beschluss gegen Demonstrationen: »Zusammenrottungen«, die nach dreimaliger Aufforderung nicht auseinandergingen, konnten niedergeschossen werden.
In Lyon, der zweitgrößten Stadt Frankreichs, dem traditionellen Zentrum der Seidenwarenfabrikation, stritten die Weber gegen wiederholte Herabsetzung ihrer Löhne. Sie forderten einen Tarif. Bei 15-stündigem Arbeitstag betrug der Jahresverdienst durchschnittlich 450 Franken, während die amtliche Statistik von 1831 für das Existenzminimum eines Arbeiters ohne Familie 547 Franken in der Stadt, 300 in der ländlichen Umgebung verzeichnet. Unterernährung und Elend dieser Frühproletarier waren weithin bekannt. 1828 waren 9032 Kinder in Lyon ausgesetzt worden.
Der Präfekt von Lyon, Bouvier-Doumolard, ein Beamter aus Napoleons Tagen, wollte die Not lindern. Er berief einen Sachverständigenrat, der den Tarifstreit schlichtete und ein Minimum des Arbeitslohns festsetzte. Die Arbeiter sahen ein Ende der bisherigen Lohnkürzungen und feierten das Resultat als Erfolg. Indes schickten über hundert Fabrikanten ein Protestschreiben an die Nationalversammlung in Paris: »Was ist dieser Tarif anderes, als ein kecker Eingriff in die Freiheit der Übereinkunft? Und wie stünde es fortan um unsere Sicherheit, wenn es der Staatsgewalt erlaubt wäre, in Sachen der Industrie einzuschreiten und den Forderungen der Arbeiter eine willfährige Unterstützung zu leihen?« Der Tarif wurde ständig gebrochen. Ein Fabrikant empfing die Vertreter seiner hungernden Arbeiter mit Pistolen. Von einem anderen sind die Worte überliefert: »Wenn sie kein Brot im Bauch haben, so wollen wir ihnen Bajonette hineinstecken.« Die Arbeiter fühlten sich betrogen. Sie beschlossen einen einwöchigen Streik. Sofort versetzte Lyons Militärkommandant die kasernierten Linientruppen in Alarmbereitschaft, und auch die besitzbürgerliche Miliz, die Nationalgarde, trat unter Waffen.
Am Montag, dem 21. November 1831, war Streiktag. Fünfzig Nationalgardisten marschierten in die Vorstadt Croix-Rousse, wo sich Seidenarbeiter versammelt hatten. Die Bürgertruppe fällte die Bajonette: »Wir müssen diese Canaille da wegfegen!« Doch sie wurde umzingelt, im Handgemenge entwaffnet, in die Flucht geschlagen. Das Scharmützel erregte die ganze Vorstadt. Da entstand der Gedanke einer friedlichen Protestdemonstration. Männer, Frauen, Halbwüchsige bildeten Viererreihen, zogen in langer Kolonne talwärts, fanden aber die Straße zur Stadt von Nationalgarde versperrt. Es waren Fabrikanten und deren Mitarbeiter, die ihre Gewehre anlegten und feuerten. Acht Arbeiter fielen. In wilder Wut rannte die Menge nach Croix-Rousse zurück und schrie in den Gassen: »Zu den Waffen, man mordet unsere Brüder!«

Das Recht auf Leben
So begann der erste große Arbeiteraufstand der Weltgeschichte. Aus den Häusern rannten wild entschlossene Blusenmänner mit Knüppeln, Schaufeln, Mistgabeln, Jagdflinten. Sogar Nationalgardisten, die Webermeister und Kleinhändler waren, fraternisierten, brachten ihre Infanteriegewehre und zwei Geschütze mit. Bei dröhnendem Trommelschlag sammelte sich die Menge unter einer schwarzen Fahne, auf der die Losung geschrieben stand: »Vivre en travaillant ou mourir en combattant!« (Arbeitend leben oder kämpfend sterben!) - ein Wahlspruch von Ausgebeuteten, die in der bürgerlichen Gesellschaft das »Recht auf Leben« durch ausreichenden Arbeitslohn für sich und ihre Familien erringen wollten. Schon an diesem Tag begannen die Kämpfe.
In der Frühe des 22. November läuteten Lyons Kirchenglocken. Die 1800 Mann starke Garnison und die weit zahlreichere Nationalgarde, etwa 10 000, besetzten ihre Stellplätze unter dem Getrommel des Generalmarsches. Ein Vortrupp wollte die Hochebene von Croux-Rousse besetzen. Er kam nicht weit, eine Überzahl von Arbeitern zwang ihn zum Rückzug. Wir wissen nicht genau, wie viele Blusenmänner sich an diesem Tag in die Stadt warfen. Es müssen Tausende gewesen sein, zumal sich auch die Arbeiter der übrigen drei Vorstädte erhoben. Die Älteren hatten den Waffengebrauch in Napoleons Armeen gelernt. Sie begannen den Aufstand mit Knüppeln, kämpften aber bald mit Säbeln und Bajonetten, Pistolen und Gewehren. Ein sympathisierender Waffenhändler öffnete sein Magazin, drei Waffenläden und zwei Kasernen wurden erobert, ein Pulverturm ausgeräumt.
Den ganzen Tag lang wurde gekämpft, am härtesten an den Ufern und Brücken der Rhône, wo die Regierungsartillerie mit Kartätschen schoss, die Kavallerie zur Attacke ritt, die Fabrikanten aus ihren Häusern auf die von jenseits angreifenden Arbeiter zielten. Unter großen Verlusten stürmten die Blusenmänner über die Brücken, schnürten Schritt für Schritt einen Sperrring um das Stadthaus, den Sitz der regionalen Regierung. Jetzt war die Stunde der Wahrheit, in der die schönen Phrasen »Liberté! Égalité! Fraternité!« in Pulverdampf und Blut erstickten. Jetzt mussten die Schönredner der Bourgeoisie beweisen, ob sie gewillt waren, die Menschen- und Bürgerrechte auch der proletarischen »Canaille« einzuräumen.
Am Abend hatten die Aufständischen das Stadthaus eingekreist. Die Kampfmoral vieler Liniensoldaten und Nationalgardisten war gebrochen. Man hatte in den Berichten von der Pariser Julirevolution den Übertritt einiger Regimenter auf die Seite des Volkes stets als eine patriotische Tat gerühmt. Es war schwer einzusehen, dass man das Volk metzeln müsse, weil es für einen vertraglichen Tarif und gegen den Hunger kämpfte. Um Mitternacht schlichen sich Lyons administrative und militärische Häupter aus der Stadt. Der Text ihres Kommuniques meldet, »dass in diesem Augenblick die vollständigste Desorganisation vorwaltet, der Aufstand alle Gewalten beherrscht und die Gesetze, die Behörden ohne Macht sind«. Wenig später besetzten die Aufständischen das Stadthaus. Am 23. November 1831, morgens zwei Uhr, waren sie die Herren der Stadt.
Erst am 24. November, nachdem sich ein Nebel gelichtet hatte, begannen die mechanischen Telegrafen, die Nachricht des Aufstands und des Arbeitersieges zu verbreiten. An der Pariser Börse stürzten die Kurse. Staatsregierung, Bürokratie, Besitzbürger fürchteten gnadenlose Rache und zügellose Anarchie. Doch Lyons Sieger überraschten durch das völlige Gegenteil. Dieben und Plünderern drohte die Todesstrafe. Kreditinstitute wurden geschützt, so dass keine einzige Kasse verschwand. In den Gefängnissen wurden Schuldgefangene befreit, blieben Verbrecher eingesperrt. Die Behörden verweilten im Amt. Der Präfekt konnte wieder ins Stadthaus kommen, seinen Anordnungen wurde Folge geleistet. Blusenmänner patrouillierten zusammen mit sich verbrüdernden Nationalgardisten für »Ordnung und Sicherheit«. Die Übrigen kehrten nach und nach in ihre Werkstätten zurück. Die Arbeiter begnügten sich mit der Genugtuung ihres Sieges. Allein der Lohntarif war das Ziel ihres Kampfes, der rund tausend Tote und Verwundete gekostet hatte. Lyons Präfekt schien noch immer die lebendige Garantie gerechter Löhne zu sein.

Börnes Warnung
Indes konzentrierte die Regierung des »Bürgerkönigs« unter Aufsicht des Kriegsministers starke Truppenverbände um die Stadt. Dort fügte man sich dem amtlichen Gebot, die Waffen wieder abzuliefern. Als aber am 3. Dezember die Armee mit 20 000 Mann der Infanterie, Kavallerie und Artillerie kampflos einrücken konnte und die Ursache der sozialen Massenempörung zur offiziellen Entscheidung stand - wurde der amtliche Lohntarif im Namen der »Freiheit des Handels und des Gewerbes« verworfen. Der Präfekt erhielt seinen Abschied, weil er durch den Versuch, ein Tarifabkommen zu vermitteln, in die »Rechte« der Fabrikanten eingegriffen habe.
Der deutsch-jüdische Emigrant Ludwig Börne schrieb in seinen berühmten »Briefen aus Paris« schon am 1. Dezember 1831: »Der Krieg der Armen gegen die Reichen hat begonnen, und wehe jenen Staatsmännern, die zu dumm oder zu schlecht sind, zu begreifen, dass man nicht gegen die Armen, sondern gegen die Armut zu Felde ziehen müsse.« Andernfalls folge auf die bürgerliche Revoluti...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.