Nur eine wird Miss OPR

Sechs junge Frauen träumen von einem Titel und einem aufregenden Leben

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 9.5 Min.
Walsleben, Mitte November, kurz vor 22 Uhr. Die Nacht bricht an, ein Stern geht auf - rote Lichterketten illuminieren das »Nightstar«. Weit und breit gibt es nur zwei große Diskotheken, das »Nightstar« ist eine von ihnen: ein Stern in langen dunklen Nächten. Seine Herkunft als Werkküche von DDR-Kartoffelbauern ist untilgbar in Betonbau gegossen, aber nun, in schummriges Licht getaucht, erinnert er an ein großes rotes Herz, das jemand mitten auf den Acker gestellt hat. Im Minutentakt fahren Autos vor, im Kennzeichen die Buchstaben »OPR«. Sie kommen aus allen Ecken des Landkreises Ostprignitz-Ruppin: aus Pritzwalk, Kyritz, Dabergotz, Wittstock, Rheinsberg, Gransee, Neuruppin. Jungen und Mädchen oder noch sehr junge Männer und Frauen springen heraus, dann brettern die alten Nissans, Toyotas, VWs, Skodas und Opel schon wieder über den Sandweg davon. Im Morgengrauen werden sie zurückkehren, um ihre Fracht wieder einzusammeln. Noch warten die Nachtschwärmer, dass man sie einlässt. Für November sind sie viel zu leicht bekleidet. Nur mit T-Shirts, Jeans oder kurzen Röcken, kaum jemand hat eine Jacke dabei. Die würde nachher, im Diskofieber, nur stören. Und heute erhoffen sie sich eine besonders heiße Nacht: Sie werden die Wahl der Miss Ostprignitz-Ruppin erleben. Christian und Wölfi aus Lindow haben eine Vorstellung davon, wie die aussehen sollte: nicht so dürr wie die angesagten Models, sondern es sollte »schon was dran« sein. Christian und Wölfi finden, wenn die künftige Miss World aus OPR, vielleicht sogar aus Lindow käme, wäre das die Bombe. »Aber so was läuft bei uns nicht rum«, sagen sie nüchtern, »zu Hause haben wir zwei, drei hübsche Mädchen, das wars.« * Drinnen beginnt sich der Saal zu füllen. Lichtfunken stieben durch die Luft, der Bass hämmert mörderisch. Sein Hämmern ist der Herzschlag des »Nightstar« - irgendwann werden alle Herzen so schlagen und alle Körper in der gleichen Frequenz schwingen - wumm, wumm, wumm, wumm! »Geil«, sagt Max aus Neustadt. Bald schon wird er abheben, deshalb kommt er her. In Neustadt ist es ziemlich langweilig. Im Raum hinter der Bar, die heute nur V.I.P.s offen steht, bereiten sich die Kandidatinnen auf ihren großen Auftritt vor. Vor 23 Uhr wird die Show kaum beginnen, trotzdem flattern sie schon vor Nervosität: Schließlich wollen sie sich heute Nacht einen Traum erfüllen - Miss OPR werden, später Miss Brandenburg, noch später Miss Ostdeutschland, dann Miss Germany und endlich vielleicht sogar Miss World. An den ganz großen Durchbruch glaubt allerdings keine von ihnen wirklich. Doch wer weiß, sie wollen ihr Bestes geben. Es sind nur sechs junge Frauen, die sich für den Contest qualifiziert haben. Um sich zu qualifizieren, muss man zwischen 16 und 28 sein, kinderlos und ledig, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und man darf keine »Oben-Ohne- oder Nacktaufnahmen« veröffentlicht haben. So lauten die Bedingungen der MGC-Miss Germany Corporation. Sie allein darf den Titel Miss Germany vergeben. Pro Jahr organisiert die MGC rund 350 Veranstaltungen, hier in Walsleben wird sie von dem Veranstaltungskaufmann Torsten Krüger und der FAB-Moderatorin Carmen Franke vertreten. Frau Franke, die nachher durch die Show führen wird, ist eine Schönheit mit Katzenaugen - bei den Miss Germany-Wahlen 1994 hat sie den vierten Platz belegt. Wäre sie nicht vor ein paar Tagen 29 geworden, würde sie wohl auch heute locker gewinnen. Selbst wenn Krüger nicht darauf wetten möchte. Er hat es sich abgewöhnt, Tipps abzugeben, »weil sowieso immer alles ganz anders kommt«. Die schönen Töchter aus OPR haben sich Beistand mitgebracht. Da weder Krüger noch Frau Franke, die morgen schon wieder in der nächsten Disko bei der nächsten Miss-Wahl aufschlagen müssen - wumm, wumm, wumm, wumm - irgendein Interesse daran haben, ihnen hilfreich zur Seite zu stehen, brauchen sie den auch. Die 20-jährige Janina aus Walsleben - sie wird mit der Startnummer 1 laufen - lässt sich von zwei ihrer Schwestern die Daumen drücken. Insgesamt sind sie fünf Geschwister zu Hause; Janina ist die Älteste und arbeitet bei McDonald's. Nicht mehr lange, wenn es nach ihr ginge. Sie möchte Model werden. Ihr Kapital: ein hübsches, frisches Gesicht, glänzende braune Augen und langes, dichtes Haar. Ginny, Startnummer 2, ist erst 17. Sie geht noch zur Schule, aufs Gymnasium in Pritzwalk, und erhält heute Unterstützung von Freunden. Auch Ginny träumt von einer Zukunft als Model. Zwar wäre sie dann viel unterwegs, würde ihre Familie oft lange nicht sehen - die würde sie vermissen. Doch sie steht viel zu gern auf dem Laufsteg, um ihren Traum deshalb aufzugeben. Ihre Freunde trauen ihr den Sieg zu: Mit den endlos langen Beinen und der selbstsicheren Ausstrahlung hat sie eine Chance. Und sie ist keine Anfängerin: Schon bei der Wahl des Putlitzer Burgfräuleins stand sie als Zweite auf dem Treppchen. Nicky mit der Startnummer 3 ist die jüngste Starterin, beinahe noch ein Kind. Die 16-jährige Schülerin hat ihr Haar zu einer blonden Lockenfrisur aufgesteckt, mit der sie unschuldig wie ein Engel aussieht. Oder ein bisschen wie Paris Hilton. Von der schwärmt sie nämlich. Und von Heidi Klum. So berühmt wie die beiden möchte Nicky auch mal werden. Sie könnte es auch verschmerzen, wenn sie um einer großen Karriere willen der Heimat den Rücken kehren müsste. »Neuruppin ist ein bisschen öde«, klagt sie, »man kann dort gar nicht richtig shoppen«. Sich zu präsentieren, in der neuesten Mode zu zeigen, findet sie toll. Und Benni findet Nicky toll, auch weil sie so mutig ist, hier mitzumachen: »Das muss man sich erst mal trauen.« Katharina - sie hat die Startnummer 4 - wohnt in Rehfeld. Der winzige Ort gehört zur Großgemeinde Kyritz, und viel mehr gibt es über ihn gar nicht zu sagen. Auch über Katharina nicht, nur, dass sie in Pritzwalk eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert, 19 Jahre alt ist, schon öfter Miss-Wahlen im Fernsehen gesehen hat und nun auch mal mitmachen will, »so aus Spaß«. Das ist dann doch berichtenswert: Katharina will kein Model werden, jedenfalls nicht unbedingt. Sie ist mit Ginny und ihren Freunden gekommen. Verstecken muss sie sich nicht: Sie ist schlank und blond. Mit der Nummer 5 wird Alexandra an den Start gehen. Alexandra sorgt gleich für zwei Überraschungen: Obwohl sie in Rheinsberg zu Hause ist, versprüht sie das Feuer einer Italienerin - sie ist nicht hübsch, nein, sie ist Klasse. Das liegt vor allem an ihren dunklen Augen, aus denen Wärme und Intelligenz sprechen. Die zweite Überraschung: Sie will nicht gewinnen. Weil sie, wenn sie hier gewänne, an weiteren Contests teilnehmen müsste. Dazu hätte sie keine Zeit; sie will sich auf ihr Abi konzentrieren und demnächst in Greifswald Medizin studieren. Hier ist sie, man glaubt es kaum, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Last not least die Startnummer 6: Susann kam vorhin in letzter Minute angebraust. Ihre Freundin Nicole stärkt ihr den Rücken. Nicole hat Susann frisiert. Mit der eleganten Hochfrisur würde man die 22-jährige in der Hennigsdorfer Förderschule, in der sie zur Zeit ein Praktikum im Rahmen ihrer Lehrerausbildung absolviert, kaum erkennen. Christian und Wölfis Geschmack düfte sie aber kaum treffen: Susann ist mehr als schlank. Trotzdem wohlproportioniert und knackig. Und sie gehört zu jenen Mädchen, die, wenn man sie sexy nennt, nicht beleidigt sind. * Die Luft im Aufenthaltsraum ist zum Schneiden - in der letzten Stunde haben die Kandidatinnen eine Zigarette nach der anderen geraucht. Außerdem haben sie sich mit reichlich Red Bull aufgeputscht - gleich müssen sie ihren schweren Gang antreten, und dabei sollen sie auch noch schweben! Susann beruhigt sich noch schnell mit einem doppelten Wodka. Nun tritt auch schon Torsten Krüger von der MGC in Aktion. Indem er verkündet, es werde Zeit, aus den Jeans und T-Shirts zu steigen und in die Abendkleider zu schlüpfen. Sichtblenden gibt es nicht, so dass sich die Mädchen etwas verschämt in die Ecken zurückziehen, um sich zuerst aus- und dann wieder anzuziehen. Als sie wieder ins Licht treten, haben sie sich in Königinnen verwandelt. Naja, zumindest in Prinzesschen. Janina trägt das, was man in einem Dorf wie Walsleben für den letzten Schrei hält: eine knallrote Abendrobe mit weitem, hinten schleppendem Rock; sie kann nur hoffen, dass niemand drauftritt. Alexandra, Katharina und Ginny wollen es im kleinen Schwarzen versuchen. Nicky hat sich für Beige entschieden, ihr BH blitzt unter den Trägern; das Kleid sitzt nicht. Susann zeigt sich in Rosé, ihr Kleid passt wie eine zweite Haut. Bevor es ernst wird, noch eine Durchlaufprobe. Die Mädchen gehen einen paar Schritte, und das sieht nicht besonders gut aus: Janina lässt die Schultern hängen, Nicky stakst in ihren Schuhen, die kein elegantes Bein machen, Alexandra (wo ist das Feuer geblieben?) läuft mit tief gesenktem Kopf und kann sich kein Lächeln abringen - eben wie eine, die nicht gewinnen will. Jemand, der etwas davon versteht, sollte ihnen jetzt zurufen: Lächelt, hebt den Kopf und die Schultern, geht leicht und beschwingt, nur Mut, ihr schafft es! Aber niemand ruft ihnen das zu, und dann geht alles ganz schnell. »Willkommen zu einem wunderschönen Abend im "Nighstar"«, eröffnet Frau Franke von der MGC draußen auf der Bühne den Countdown. Wumm, wumm, wumm, wumm! Sie stellt die Kandidatinnen vor, die sich auf dem Laufsteg präsentieren und ihr dann ein »Interview« geben. Zu verstehen ist quasi nichts: Wo es so viel zu sehen gibt, will sowieso keiner etwas hören. Anschließend zeigen sich die Mädchen ausführlich. Die Jungs im Saal reißen die Bierflaschen hoch, Raunen, Buh-Rufe, Pfiffe, Gejohle. Sprüche wie: »Am besten ist, du hälst dir die Nummer vors Gesicht!« Alles in allem halten sich die Kandidatinnen aber tapfer. Ihnen schlägt ja durchaus auch Bewunderung entgegen, und ist es nicht das, wonach sie sich sehnen? Wow-Rufe werden immer dann laut, wenn Ginny oder Susann den Laufsteg betreten. Wumm, wumm, wumm, wumm! Den nächsten Durchgang müssen die Mädchen in Badeanzügen durchstehen. Die stellt die MGC zur Verfügung, und bis sie in hochhackigen Schuhen erneut in den Hexenkessel steigen, zupfen, zerren und zurren sie, wo man an Badeanzügen nur zupfen, zerren und zurren kann - die Teile sitzen arg knapp. Aber nun schießt durch ihre Adern bereits reines Adrenalin. »Die Fleischbeschau beginnt«, sagt Susann. Also noch einmal: wumm, wumm, wumm, wumm! Geschafft! Nachdem die Jury abgestimmt hat, trifft sie sich noch zur Manöverkritik in der Bar - die Chefin eines Kosmetiksalons, die Inhaberin eines Nagelstudios, die Besitzerin eines Friseursalons, ein Optikermeister und ein Vertreter des Fußballvereins Blau-Weiß Welzig. Satzfetzen fliegen über den Tisch: »Die war mir zu dürr«, »Die hat nie gelächelt«, »Die sah ein bisschen nuttig aus«, »Der fehlte links oben ein Zahn«. Hier wird über Hunger nach Leben verhandelt. Über kleine Mädchen mit großen Träumen. Über die Sehnsucht, jemand zu sein, wahrgenommen, bewundert zu werden, nach Glamour, Liebe, Anerkennung. »Die Siegerin des Abends ist ...« - die schöne Frau Franke erhebt ihre Stimme: »Miss OPR ist Susann Schönborn!« Susann zittert wie Espenlaub, bis die Anspannung von ihr abfällt. Später wird sie ihrer Freundin Nicole in die Arme fallen und die Nacht mit ihr durchfeiern. Die beiden waren zusammen auch schon zum Talk bei Bärbel Schäfer - mit dem ICE, und das Hotelzimmer wurde ihnen bezahlt. Sie nehmen, was das Leben bietet. Und gerade hat es ihnen wieder etwas geboten: Sie werden zur Wahl der Miss Brandenburg und zur Wahl der Miss Ostdeutschland fahren! Die Zweit- und Drittplatzierte, Ginny und Katharina, haben sich ebenfalls eine Fahrkarte zur Miss Brandenburg-Wahl erkämpft. Auch Alexandra hat Glück gehabt: »Gott sei Dank«, ruft sie, »es ist zu Ende!« Janinas Augen blicken traurig. Sie sagt ein wenig zu munter: »Dann mache ich eben nächstes Jahr wieder mit.« Nächstes Jahr wird sie ein Jahr älter sein und vielleicht immer noch bei McDonald's. Nicky weint sogar ein bisschen. Sie wäre so gern wie Paris Hilton, jetzt muss sie in Neuruppin bleiben. Ihr Freund Benni ist gar nicht so böse darüber. Er nimmt sie in den Arm und flüstert, dass sie für ihn die Schönste der Welt ist. Der Saal tanzt: wumm, wumm, wumm. Das Her...

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