Mit Glasauge und Knete

Toten wieder ein Gesicht geben, können nicht viele Menschen - eine Frankfurter Rechtsmedizinerin gehört zu ihnen

  • Sandra Trauner, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 4 Min.
Constanze Niess hat ein überaus seltenes Spezialgebiet: Sie rekonstruiert die Gesichter Toter. So hilft sie etwa der Polizei bei der Identifizierung.

Seit Wochen arbeitet Constanze Niess an der Wiedererschaffung eines Mannes aus dem Mittelalter. Heute ist ein wichtiger Tag: Mit der Post kommt der Originalschädel aus Husum. Endlich kann sie den echten Knochen aus dem 14. Jahrhundert mit ihrer Rekonstruktion vergleichen. Vorsichtig nimmt sie das fast 700 Jahre alte Fundstück aus dem Karton - da löst sich ein Zahn aus dem Kiefer und fällt zurück in den Karton.

Berührungsängste mit menschlichen Knochen sind der Frankfurter Rechtsmedizinerin fremd. In ihrem Brotberuf schneidet die 48-Jährige oft Leichen auf, um die Todesursache festzustellen oder untersucht Gewaltopfer. Nebenbei rekonstruiert sie Gesichter - in Deutschland eine absolute Seltenheit. 25 Gesichter hat sie in den vergangenen 15 Jahren aus Knete optisch wiederhergestellt: »forensische« Rekonstruktionen im Auftrag von Polizei oder Staatsanwaltschaft, oder »historische« im Auftrag von Museen.

»Was mich fasziniert, ist die Kombination aus Wissenschaft und Kunst«, erklärt die zierliche blonde Frau. »Jeder Mensch besitzt, vergleichbar mit dem Fingerabdruck, eine einzigartige Gesichtsform.« Der Kopf des Mannes, den sie gerade rekonstruiert, hat ein langes Nasenbein und bekommt daher einen ordentlichen Zinken verpasst. Seine starken Wangenknochen und sein eckiger Kinnknochen verraten Niess, dass er ein markantes, männliches Gesicht hatte. Der kaum abgeschliffene Weisheitszahn und die noch nicht vollständig verwachsenen Schädelnähte lassen auf ein Alter Anfang 20 schließen.

Die Grundlagen wissenschaftlicher Gesichtsrekonstruktion lernte Niess 2001 in den USA. Im Prinzip, erklärt sie in dem 2014 bei Bastei Lübbe erschienenen Buch »Die Gesichter der Toten«, gibt es zwei Methoden: die amerikanische und die russische. Bei der einen werden aus Plastilin nachgeformte Muskeln und Knorpel über den Schädel gelegt; bei der anderen - entsprechend einer von Forschern berechneten »Weichteiltabelle« - Abstandhalter auf den Schädel gesetzt. Sie zeigen an, wie dick das Plastilin an dieser Stelle später sein wird.

Für ihren ersten Kurs nahm sie den Schädel eines damals noch nicht identifizierten Toten per Flugzeug mit in die Südstaaten. Während sie an ihrer ersten Gesichtsrekonstruktion arbeitete, löste die Polizei den Fall und präsentierte ihr nach der Rückkehr Fotos des Toten. »Horst«, wie Niess ihre erste Rekonstruktion nannte, war »Benno«, wie der Tote wirklich hieß, gar nicht so unähnlich. In seinen besten Zeiten, sagte seine Ex-Freundin, habe er vielleicht so ausgesehen. Sie kannte ihn nicht so gepflegt, sondern alt und ausgemergelt.

Von Rekonstruktion zu Rekonstruktion lernt Niess seither dazu. Für »Alfonso« kaufte sie eine Perücke, die den Haarresten an der Leiche entsprach, stellte dann aber fest, dass die akkurate Frisur den Gesamteindruck verfälschte. Seither deutet sie die Haare nur durch Kerben und Farbe im Plastilin an. Wie ein Zwilling wirkt die Rekonstruktion eines beleibten Mannes mit Hasenscharte, der in einer Gartenhütte im Odenwald verbrannt war.

Auch weltweit gesehen ist Niess’ Tätigkeit selten. Zu den Kongressen der International Association for Craniofacial Identification (IACI) kommt selten mehr als eine zweistellige Zahl von Teilnehmern.

Ihr Handwerkszeug stammt aus dem Bastel- oder Künstlerbedarf, von einem befreundeten Zahnarzt oder aus der heimischen Küche. Die Augen für ihre Köpfe bekommt sie in Wiesbaden bei einer Spezialfirma, die mittels Glasbläserkunst Glasaugen für Sehbehinderte produziert.

Für eine Rekonstruktion bei einem Kriminalfall braucht Niess weniger lang als für Museumsaufträge. »Das schaffe ich in zwei Wochen, wenn ich mich ranhalte.« Die Arbeit mit einem historischen Schädel dauert länger. »Das ist anspruchsvoller«, sagt Niess. Aber auch hier gilt: »Die Basis aller gestalterischer Entscheidungen sind die Knochen und die Wissenschaft.« Meist erbittet sie sich bei den Museen dafür zwei Monate Zeit, denn die 50 bis 60 Nettoarbeitsstunden leistet sie neben ihrem normalen Job am Institut für Rechtsmedizin.

Ihr jüngster Auftrag ist ab 29. Mai im NordseeMuseum Husum zu sehen: Für eine Ausstellung über die sagenumwobene Siedlung Rungholt (»Das Atlantis der Nordsee«) rekonstruiert sie gerade den Schädel eines Mannes, der 1362 bei einer Sturmflut ums Leben kam. Zur Zeit liegen in ihrem Büro die halb fertige Rekonstruktion aus Plastilin und der skelettierte Originalschädel nebeneinander. Der Zahn ist wieder drin. dpa/nd

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