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Sehr trieftige Gründe

Hermann Nitsch in Berlin: Blut fließt

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.
Hermann Nitsch versteht sein künstlerisches Tun als rituelle Opferhandlung«, sagen die Ausstellungsmacher der Nationalgalerie in Berlin. Das Opfer könnte im Falle einer Ausstellungsbesichtigung der Besucher sein. Nein, nicht dass er aufgebahrt, gekreuzigt wird, mit Blut begossen, mit tierischen Eingeweiden massiert. Das ist den nackten Protagonisten des »Orgien-Mysterien-Theaters« (OMT genannt) Nitschs vorbehalten. Der unvorbereitete Betrachter muss gewärtig sein, dass er vom spirituellen Bombast erschlagen wird, dem er im gastgebenden Martin-Gropius-Bau begegnet. Er wird sich fragen, ob es denn wirklich so ein Glück ist, nun die erste Retrospektive des österreichischen Aktionskünstlers in Deutschland, von den Freunden der Nationalgalerie finanziert, sehen zu können. Oder ob nicht ein anderes Projekt die großzügigen Mittel des Vereins eher verdient gehabt hätte. Nitsch, 1938 in Wien geboren, hat zu Beginn der 60er Jahre die Künstlerbewegung Wiener Aktionismus gemeinsam mit Otto Mühl, Rudolf Schwarzkogler und Günter Brus begründet. Damals gab es Anklagen wegen Sittenwidrigkeit, Prozesse, Gefängnisstrafen. Er ist der einzige der Gruppe, der bis heute das aktionistische Werk fortgesetzt hat. Er hat es zu seinem immer gleichen Gesamtkunstwerk ausgebaut, das Malerei, Performance, Theater und Musik verbindet. Auf seinem Schlossareal im niederösterreichischen Prinzendorf veranstaltet er seit 1971 die Orgien-Mysterien-Spiele, mit denen er »die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit« erzählen will. Sie sind auf Foto und Video dokumentiert, in der Ausstellung wird eine Auswahl gezeigt. In Vitrinen liegen einige Bücher - Nitsch hat eine Theorie, eine ganze Bibliothek über sein Werk geschrieben. Die meterhohen Wände fassen die riesigen Formate der berühmten »Schüttbilder« kaum, die roten, die bis in die 80er Jahre entstanden, von denen die Farbe trieft, strömt, tröpfelt wie Nitschs Lieblingssaft Blut, denn es geht ihm ja um Schmerz und Leid, Geburt und Tod, Schuld und Erlösung - bei der Pressekonferenz wurde den Journalisten sinnigerweise Blutwurst auf Brot gereicht. Oder die mehrteiligen bunten, partiell auch am Boden liegenden Bilder, denen man die Wucht des Wischens, Spritzens, Spachtelns ansieht, Materialisierungen des orgiastischen Schwelgens dieses kleinen Dionysos. Seine Instrumente - Werkzeuge und Relikte wie chirurgische Zangen, besudelte alte Messhemden, Monstranzen, Mullbinden, Taschentücherstapel aus Wegwerfpapier u.a. - werden wie Preziosen präsentiert. Acht »Kreuzwegstationen« wurden aus privaten und öffentlichen Sammlungen zusammengebracht. Dazu gibts Plakate (Originale) vieler Ausstellungen. Auf einer riesigen Projektionsfläche sorgt eins der gezeigten Videos fürs Miterleben der ihn adelnden Aufführung des OMT im Wiener Burgtheater im November 2005. Es war die bislang letzte, die 122. Aktion. Nitsch in seinem Element: Er will alles groß. Die alles in allem rund 300 Exponate sind im Obergeschoss, in 18 Räumen des Gründerzeitbaus inszeniert. Pathos in pathetischen Räumen. Dem entspricht die Selbstbeschreibung des nach Jahren der Lebensekstase inzwischen ins Kugelrunde gepolsterten Mannes: »Ich bin alles: Maler, Dichter, Theatermann, Musiker, Lyriker, Skulpteur.« Seine Tondichtungen, 1999 wurden in Berlin im Hamburger Bahnhof erstmals einige zu Gehör gebracht, berieseln den Ausstellungsbesucher, als ginge er durch ein den Kunden umwerbendes Kaufhaus. Schwer entscheidet man sich, ob man das Ganze als Geschmackssache schulterzuckend passieren lässt, als mit geborgter Bedeutung aufgeladenen Art-Zirkus eines Selbstvermarktungskünstlers, oder sich nicht doch ob der geballten Ladung Kunstwissenschaftlertum und Mediengeklapper, die dahinterstehen, ehrfürchtig und andächtig beugt. Polarisiert hat der Beinahe-Professor in Frankfurt am Main und österreichische Staatspreisträger schon immer. Die einen sehen den »lebenden Heiligen in Österreich« als einmalig, als Klassiker an, die anderen finden ihn primitiv, anmaßend und skandalös, vor allem Tierschützer und Gläubige. Die exzessive Sinnlichkeit, wo Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten eins sind, drapiert mit Kultischem und Religiösem, die mit der Grenzverwischung zwischen Kunst und Leben angestrebte Momentaufnahme der Welt hat schon manchen Jünger hervorgebracht. Die bekanntesten: das Duo infernale Jonathan Meese und Christoph Schlingensief - der sich aber nicht als Jünger sieht und die Beuys-Erbschaft, die in Museen schlummert und aus den Köpfen hinausgefegt scheint, zu reanimieren auffordert. Was dem einen Farbenfuror à la Jackson Pollock, Feier der Formenvielfalt, Ode ans Leben, ist den anderen höchst langweiliger monumentaler Kitsch. Die Welt - eine Bühne, das Leben - ein Spiel, nach Shakespeare: Viel Lärm um Nitsch. Martin-Gropius-Bau Berlin: Hermann Nitsch. Orgien Mysterien Theater Retrospektive. Bis 22.1. 2007, Mi-Mo 10-20 Uhr. 26.12. und 2.1. 2007 10-20 Uhr geöffnet, 24.12., 31.12. geschlossen.
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