Kasachstan wird kasachischer

Russen fürchten zunehmende Verdrängung und setzen auf Präsidenten

  • Alexandre Sladkevich, Astana
  • Lesedauer: 7 Min.
Kasachstan teilt sich nicht nur in Nord und Süd, es hat auch zwei Hauptstädte, zwei prägende Bevölkerungsgruppen und deren Sprachen - Kasachisch und Russisch.

Wie wunderschön Astana, die Hauptstadt Kasachstans ist, davon wird bereits in weniger oder mehr benachbarten Ortschaften Russlands geschwärmt. Um Astana, zu deutsch Hauptstadt, zu erreichen, passiert man den russisch geprägten Norden Kasachstans. Das Land ist in zwei Gebiete eingeteilt: Nord- und Südkasachstan. Südkasachstan mit seiner inoffiziellen Hauptstadt Almaty, der ehemaligen Hauptstadt des Landes, gilt als kasachisch und orientalisch. Die andere Hälfte kann dagegen nur bedingt mit Kasachischem prunken; zwischen beiden Gebieten sind die Verhältnisse zum Teil angespannt.

Dank der Eurasischen Wirtschaftsunion ist der Zoll kein großes Hindernis, nicht einmal die Taschen werden kontrolliert. »Nur wenn jemand verdächtig aussieht, wird er unter die Lupe genommen«, erzählt der in Petropawl lebende Nikolaj, der ständig hin- und herfährt. Das erleichtere allerdings die Drogeneinfuhr nach Russland.

Ob man nun über Petropawl oder Qostanai nach Kasachstan einreist - man wird keine großen Unterschiede sehen. Beide Städte sind überwiegend von Plattenbauten aus der Sowjetzeit und oft fünfstöckigen Ziegelsteinhäusern geprägt, wenige davon renoviert. Vereinzelt begegnet man Neubauten und historischen Häusern. Dafür aber riesigen und kleinen Mosaiken, Kriegsdenkmälern und weiteren Hinterlassenschaften der Sowjetepoche. Asphalt und Fahrbahn tragen häufig die Spuren der Zeit, und wenn es regnet, entstehen riesige Pfützen voller Schlamm. Wird es danach über Nacht plötzlich kalt, breitet sich eine Eisbahn aus.

Viele Kasachen beherrschen nur Russisch. Die meisten Bewohner sehen nur russische Sendungen im Fernsehen. Den einzigen Unterschied zu den Provinzstädtchen Russlands bilden hier und da Plastiken, die mythologische kasachische Helden, herausragende Persönlichkeiten und Menschen in Volkstracht darstellen. Man trifft auf Plakate des Präsidenten Nursultan Nasarbajew, auch gemeinsam mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin und dem Staatschef von Belarus Alexander Lukaschenko. Man sieht Puschkin und den kasachischen Nationaldichter Abay nebeneinander stehen, auch Dostojewski und den kasachischen Ethnografen Walichanow - Zeichen der historischen Verbindung zwischen den Staaten. Manche Straßennamen klingen ungewohnt für das russische Ohr, und wenn man länger sucht, findet man schon hier im Grenzgebiet die kasachischen Spezialitäten, beispielsweise Kurt - salzigen, luftgetrockneten, in Kugeln geformten Quark sowie Kasy, Karta, Sucuk, Ssuret, lauter Pferdefleischspezialitäten.

Ivan (32) lebt mit seiner Frau Alja (32) in Petropawl. Er ist Russe, sie eine Russlanddeutsche, deren Vorfahren unter der Herrschaft Stalins hierher deportiert wurden. »Man versucht, Kasachstan rein kasachisch zu machen. Schon jetzt sind viele Papiere auf Kasachisch, was das Leben erschwert. Ich möchte aber nicht Kasachisch lernen«, erzählt Ivan sehr leise. »Solange Nasarbajew regiert, geht es. Aber wenn er stirbt, wird alles auf Kasachisch umgestellt. Nasarbajew ist der einzige Garant des zweisprachigen Kasachstans.« Man behauptet, der 75-jährige Nasarbajew verbiete, die russische Bevölkerung in irgendeiner Hinsicht zu diskriminieren. Dass das nicht mehr lange dauern wird, wenn man sein Alter berücksichtigt, befürchten auch andere Einheimische. Viele haben deswegen vor auszuwandern. »Wir werden nach Deutschland umziehen«, sagt Alja.

Wadim aus Qostanai hat bereits seine Frau und Eltern nach Russland geschickt und will sich in Kürze anschließen: »Alles wird nach und nach auf Kasachisch umgestellt, die russische Bevölkerung wird in die Zange genommen.« Viele beschweren sich, dass man gezwungen ist, einen Übersetzer zu bezahlen, um Unterlagen ins Russische zu übertragen. Man füllt sie aus - und muss sie dann ins Kasachische übersetzen lassen.

Katrin (22) aus Qostanai fühlt sich dagegen wohl: »In unserer 12-köpfigen Clique sind alle Kasachen, außer mir und noch einem. Wir feiern gemeinsam christliche und muslimische Freitage. Und ich kriege Angst, wenn ich denke, was nach Nasarbajews Tod kommt. Die Südkasachen hassen uns alle, aber es ist trotzdem nicht so schlimm. Ich fühle mich perfekt. Viele fliehen, aber ich liebe den goldenen Adler unter der Sonne!« Sie meint die Nationalflagge.

Auch im etwa 200 Kilometer von der Grenze entfernten Kökschetau sieht es nicht viel anders aus. Der gebürtige Kasache Danijar, der dank seinem Aussehen im Präsidentenregiment seinen Dienst leistete, beherrscht Kasachisch nicht. Auch seine Freunde Schenja und Jerschan sprechen untereinander fast nur Russisch. »Wenn Russland sich an Europa orientiert, was die Trends angeht, orientieren wir uns an Russland«, erzählen sie. Im Lauf des Gesprächs meint Schenja, dass in Kasachstan Tribalismus herrsche. Dass einiges nur über Verwandtschaft und Beziehungen funktioniert, ist kein Geheimnis. Auch der hier lebende David (22 Jahre) beschwert sich: »Es ist nicht einfach. Ich werde auswandern.«

»Das Kasachische erlebt man im Süden, aber zum Teil auch schon in Astana«, meint Danijar. Jerschan nickt. Doch in Kökschetau wird das kasachische Kolorit bereits durch eine größere Anzahl von Nationalplastiken vermittelt. Man kann hier unter anderem neben der üblichen Kumys - Stutenmilch, auch Schubat - ein Kamelmilchgetränk kosten und den landesweit geschätzten Kautabak Naswaj erwerben: Die aus Tabak, Löschkalk und wahrscheinlich Hühnerkot hergestellte Mischung wird unter der Lippe gehalten.

Der kasachische Eisenbahnzug, viel komfortabler und günstiger als ein russischer, lässt das Kökschetau-Massiv hinter sich und bricht durch die großräumige Einöde der Steppe. Hier und da stehen winzige schiefe Holzbauten. Vogelschwärme kreisen.

Irgendwann kommt eine Oase: Die Sonderwirtschaftszone Astana, die der Fluss Ischim teilt. Die älteren Stadtviertel samt einigen Neubauten liegen am rechten Ufer, während die neuen Stadtviertel gegenüber liegen. Hier herrscht rege Bautätigkeit. Baustellen, Kräne und Wolkenkratzer, palastähnliche und futuristische Einrichtungen, Moscheen, Glasbauten. Seit Astana zur Hauptstadt ernannt wurde, erlebt sie ein großes Wirtschaftswachstum. Daraus folgt auch ein starker Bevölkerungszuwachs. Die Stadt breitet sich aus und erobert die Steppe, die mancherorts direkt an Straßen und Bauwerke grenzt.

»Alles wird extra dafür gebaut, damit man es fotografiert und die Bilder verbreitet«, hört man ab und an. Auch das alte Stadtviertel wurde renoviert und sieht perfekt aus. Hier kann man das Leben spüren. Das linke Ufer dagegen wirkt ziemlich leblos. Die meisten Menschen, die man dort trifft, versammeln sich neben den Regierungsbauten zu Fuße des Bajterek-Turms, des Wahrzeichens der Stadt. Dort, 97 Meter in den Himmel gereckt, befindet sich ein vergoldeter Handabdruck der rechten Hand Nasarbajews. Viel Glas und Metall, doch hier spürt man tatsächlich mehr von Kasachstan. Die Bushaltestellen werden nur auf Kasachisch angesagt, man hört diese Sprache häufig und sieht nicht viele Russen.

Viele Menschen wirken unbekümmert, die Atmosphäre ist entspannt. Nur auf den Märkten geht es lauter zu. Die zahlreichen Polizeipatrouillen sind unübersehbar und es wird von hohen Strafen getuschelt. Umso unerwarteter ist der angetrunkene Mann, der sich als Timur (76) vorstellt: »Ich hasse dieses System, es kann mich mal! Es gibt hier keine Demokratie, ich höre auf, ein Sklave zu sein, ich habe keine Angst!« Dinara (21), die das mitbekommt, wirkt verwirrt: »Schwachsinn, ich verstehe gar nicht, was das soll«.

Asat (27), Beksat (28) und der etwa 30-jährige Murat leben in einer Wohngemeinschaft in einem schönen neuen Hochhaus am rechten Ufer. Die kasachischen Freunde wirken europäisch, sind locker, sehr lebensfroh und gebildet. »Es gibt Menschen, die Nasarbajew mögen und es gibt Menschen, die das nicht tun. Ich sehe ein, dass hier eine Autokratie herrscht. Die Opposition wurde vernichtet, es gibt keine Demos«, sagt Asat, der nicht bestürzt darüber zu sein scheint, obwohl er das auch nicht gut findet. Eine Erklärung liefert Beksat: »Der Staat entwickelt sich, es gibt Defizite, aber Kasachstan befindet sich im Übergangsstadium«. Asat fügt hinzu: »Dass Nasarbajew alles von Putin lernt, ist falsch, eher umgekehrt.«

Die Jungs bekommen Besuch und wollen einen Boxkampf anschauen. Der weltbekannte kasachische Boxer Gennadi Golowkin begeistert sie. »Gennadi ist das Markenzeichen Kasachstans«, ist Murat überzeugt. Doch die eigentliche Marke ist Astana, eine der kältesten Hauptstädte der Welt, die in der zugigen und trockenen Steppe liegt. Das ist nicht gerade angenehm für die Bevölkerung. Dennoch ist Astana eine moderne Oase in Nordkasachstan - wirtschaftlich wie visuell.

Einige Namen sind geändert.

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