Aus der Tabuzone

Reinickendorf kämpft gegen ein stilles Problem: die Einsamkeit von Jung und Alt

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 7 Min.
Soziale Medien können die Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen verstärken – wenn sie reale soziale Begegnungen verdrängen.
Soziale Medien können die Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen verstärken – wenn sie reale soziale Begegnungen verdrängen.

In einem weißen Maler-Overall steht die 17-jährige Annabelle auf dem Schulhof der Max-Beckmann-Oberschule vor einer der Leinwände, die eine riesige Sanduhr zeigt, in der ein Mensch kauert. »Der Hintergrund ist blau-schwarz gestaltet, weil diese Farben sehr stark an Einsamkeit und Trauer erinnern«, erklärt die Elftklässlerin. »Oben sind die positiven Dinge – daher die Blumenwiese und der blaue Himmel. Und unten dann die Einsamkeit, wie der Sand von oben nach unten auf die Person fällt.« Denn darum geht es bei diesem Projekttag: Eine kreative Bildsprache finden, um von Einsamkeit unter Jugendlichen zu erzählen. Für Annabelle ist das ein wichtiges Thema: »Ich finde, jeder ist irgendwie ein bisschen einsam«, sagt sie. »Ich bin zum Beispiel so ein Mensch. Meine Familie ist immer auf meiner Seite, und ich habe auch sehr gute Freunde. Aber es gibt viele Tage, wo ich mich extrem einsam fühle und komplett auf mich alleine gestellt bin.«

Mädchen in ihrem Alter durchleben oft eine schwierige Phase: »Der erste Freund, der Kontakt zu einer guten Freundin geht verloren, Familienmitglieder sterben – das bringt alles hoch«, erzählt Annabelle. »Das sind Dinge, die bei mir dieses Gefühl der Einsamkeit ausgelöst haben.« Die Schülerin hat für sich Wege gefunden, um damit umzugehen: Sie schreibt Tagebuch, geht spazieren, hört Musik. »Aber ich fand, dieses Sprayen war auch eine gute Möglichkeit – hat auf jeden Fall sehr viel Spaß gemacht«, sagt sie.

Auch ihr Mitschüler Milen fand den Projekttag spannend. »Ich glaube, das ist ein Riesenthema«, sagt der Jugendliche. Immer wieder beobachte er, dass sich viele Jugendliche verstellen, um mit Menschen befreundet zu sein, mit denen sie gar nicht zusammenpassen. »Ich denke, das ist auch eine Form von Einsamkeit«, sagt Milen. »Also, dass man das macht, damit man überhaupt Freunde hat und nicht ganz alleine dasteht.«

Wie unterschiedlich sich das quälende Alleinsein bei Jugendlichen zeigt, weiß Taner Avci genau. Der Straßensozialarbeiter beim Berliner Verein Gangway hat den Projekttag organisiert. »Wenn man an Einsamkeit denkt, denkt man erst einmal an alte Menschen, an kranke Menschen oder an Menschen, die im Gefängnis leben«, sagt Avci. »Aber Einsamkeit unter Jugendlichen ist viel verbreiteter, als man vermutet.«

Die gesellschaftlichen Auswirkungen können gravierend sein. Bleibt sie unbemerkt, kann sie sogar zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Betroffene sind anfälliger für politische Radikalisierung – so das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung. »Wir thematisieren das mit den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, und versuchen, diese radikalen Strukturen zu entlarven«, sagt Avci. »Was jungen Menschen fehlt, ist oft der Austausch mit erfahrenen Menschen«, bemerkt er.

Dass im Berliner Bezirk Reinickendorf offen über Einsamkeit geredet wird, liegt vor allem an CDU-Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner. Bei ihren Bürgersprechstunden, damals noch als Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus, traf sie immer wieder auf vereinsamte Menschen. Mit den Jahren wurde Demirbüken-Wegner zu einer Art Lobbyistin für das Thema. »Ich wollte die leisen Stimmen aus meinem Wahlkreisbüro in die Welt hinaustragen«, sagt die CDU-Politikerin.

Deshalb gibt es in Reinickendorf seit knapp zwei Jahren eine der bundesweit ersten hauptamtlichen Einsamkeitsbeauftragten. Ihr Name: Katharina Schulz. Sie soll vor allem Angebote und Initiativen gegen Einsamkeit vernetzen und öffentlich sichtbarer machen. Zwar sei sie keine Sozialarbeiterin, erzählt Schulz, aber eben doch das Gesicht zu einem Thema, das viele betreffe. »Tatsächlich rufen mich auch Menschen aus ganz Deutschland an. Ich versuche, ihnen Mut zu machen und sie zu ermuntern, sich in ihrer Umgebung umzuschauen, an die Verwaltung oder die Kommunen heranzutreten und sich beraten zu lassen, welche Möglichkeiten es gibt.«

Quasselbänke als Orte der Begegnung

In Reinickendorf hat sie sogenannte Quasselbänke aufstellen lassen – Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum, die Begegnungen ermöglichen sollen. Ein Anwohner war so begeistert von der Idee, dass er eine solche Bank auch für sein Viertel haben wollte. Er holte sich die Unterstützung seiner Nachbarn, überzeugte die Wohnungsbaugesellschaft – und Schulz ließ die nächste Quasselbank aufstellen. Auch medial ist das Projekt ein Erfolg: Die Bänke haben es sogar bis ins südkoreanische Fernsehen geschafft.

Darüber hinaus initiiert Schulz Stammtische in Cafés und Restaurants, bei denen Menschen zusammenkommen und sich austauschen können. Außerdem vermittelt sie einsame Menschen an eines der zahlreichen Angebote im Bezirk. »Besonders ältere Menschen, die nicht digital affin sind, wissen oft gar nichts von den vielen Angeboten in Stadtteilzentren, Seniorenfreizeiteinrichtungen oder Nachbarschaftsetagen«, erzählt sie. Bei ihrer Arbeit gegen die Einsamkeit hilft der 43-Jährigen, dass sie auch für das Ehrenamt im Bezirk zuständig ist. Eine gute Kombination, findet Schulz: »Ehrenamtliche können einsamen Menschen helfen – genauso wie ein Ehrenamt für einsame Menschen selbst ein Weg aus der Einsamkeit sein kann.«

Ein Klub für Senioren

Beispiele dafür gibt es viele im Bezirk – etwa im Märkischen Seniorentreff in Reinickendorf. An diesem Mittwochmittag sind die Tische gut gefüllt, Musik und lautes Stimmengewirr erfüllen den Klubraum. Mittendrin: Eva Mainka – helle Bluse, spöttisches Lächeln, die grau-weißen Haare sorgfältig frisiert. Auch mit 92 Jahren ist die Rentnerin im Vorstand des Klubs aktiv, der fast täglich Tanzen, Basteln und andere Aktivitäten für Senioren anbietet. Heute ist Bingo an der Reihe. Es geht gesellig zu, einsame Menschen würde man hier auf den ersten Blick nicht vermuten. Doch das Thema bewegt auch sie selbst: »Ich kenne mich aus. Ich habe eine hübsche Wohnung, nette Nachbarn. Und trotzdem: Wenn man die Tür zumacht, ist man allein. Damit hatte ich schon sehr zu kämpfen.«

Die Arbeit im Seniorentreff hat Eva Mainka nach dem Tod ihres Partners vor 18 Jahren geholfen – in einer Lebensphase, in der sie sich selbst sehr allein fühlte. »Das ist eine große Lücke, wenn man plötzlich nach Hause kommt, die Wohnung leer ist und man weiß: Es kommt keiner mehr«, erinnert sich die Rentnerin. »Wenn man auf jemanden wartet, ist es anders – da weiß man immer: Es klopft gleich jemand. Aber wenn man da sitzt und weiß, es passiert nichts mehr – das ist ein anderes Gefühl.«

Katharina Schulz versucht als Beauftragte, die Einsamkeit in Reinickendorf zu thematisieren.
Katharina Schulz versucht als Beauftragte, die Einsamkeit in Reinickendorf zu thematisieren.

Eva Mainka weiß, wie schwierig es ist, aus diesem Loch herauszukommen. »Menschen, die einsam sind, haben Scheu rauszugehen«, sagt sie. »Ich möchte manchmal mit dem Sprachrohr umherlaufen und rufen: ›Kommt raus aus euren Wohnungen, kommt raus aus den Löchern‹.« Denn wer einmal hier ist, findet schnell Anschluss. »Wir achten dann immer darauf, dass die Neuen an einen Tisch kommen, wo gesprochen wird, und helfen dann nach«, erzählt Mainka. »Wichtig ist der Schritt, von zu Hause hierherzukommen.« Für ihren Klub sind Mainka und ihre Mitstreitenden immer auf der Suche nach neuen Interessenten.

Einsam sein, das bedeutet nicht nur allein sein, sagt die Seniorin, sondern auch, dass man als Mensch nicht gesehen wird. »Ich brauche niemandem mehr etwas zu beweisen«, sagt Mainka. »Aber man möchte auch mit 90 noch Anerkennung bekommen – dass jemand sagt: ›Heute siehst du aber gut aus‹ oder ›Schön, dass ich mit dir sprechen konnte.‹« Sie muss jetzt Schluss machen, die Bingo-Runde hat bereits begonnen. Der Märkische Seniorentreff ist für Mainka zu einem zweiten Zuhause geworden: »Es ist fantastisch – wir sind zusammen, trinken Kaffee und erzählen«, sagt sie. »Und das ist unser Leben – ist doch wunderbar!«

Von der Einsamkeit zur Gemeinschaft im Seniorentreff – Geschichten wie diese zeigen, wie man dem Alleinsein begegnen kann. Wozu aber braucht es dann noch eine Beauftragte wie Katharina Schulz, wenn Menschen wie Eva Mainka ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und auch andere dazu animieren, es ihnen gleichzutun?

Schulz’ Arbeit ist wertvoll, sagt Emine Demirbüken-Wegner. Sie schafft viel Aufmerksamkeit für das Thema. »Menschen scheuen sich nicht mehr, in der Öffentlichkeit über Einsamkeit zu sprechen. Das Thema wird aus der Tabuzone geholt«, sagt die Bezirksbürgermeisterin. »Und Menschen ergreifen den Mut zu sagen: ›Ja, auch wir sind davon betroffen.‹ Das ist wichtig.«

Deshalb findet an diesem Dienstag der dritte Einsamkeitsgipfel in Reinickendorf statt – mit Fachvorträgen und Workshops zum Thema. Der Schwerpunkt in diesem Jahr: Einsamkeit und Jugend. Auch die Bilder, die Annabelle und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler der Max-Beckmann-Oberschule gesprayt haben, sollen dort ausgestellt und anschließend versteigert werden. Die Arbeit scheint der Einsamkeitsbeauftragten vorerst nicht auszugehen – das Interesse am Thema ist groß: Im vergangenen Jahr kamen so viele Menschen zum Einsamkeitsgipfel, dass Schulz in diesem Jahr nach größeren Räumen suchen musste.

»Besonders ältere Menschen, die nicht digital affin sind, wissen oft gar nichts von den vielen Angeboten in Stadtteilzentren, Seniorenfreizeiteinrichtungen oder Nachbarschaftsetagen.«

Katharina Schulz
Einsamkeitsbeauftragte in Reinickendorf

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