Zauberhafte Anstöße

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne - aber nicht jeder Anfang ist zauberhaft. Jeder Anstoß zu Beginn eines Fußballspiels etwa ist der immergleiche Vorgang; sei Äonen hat sich an diesem Ritual nichts geändert. Zwei Spieler einer Mannschaft stehen im Mittelkreis, in dessen Mitte auf einem Punkt sich der Ball befindet; die restlichen Mitspieler beziehen ebenso wie jene des Gegners ihre Positionen in den jeweiligen Spielhälften. Der Schiedsrichter pfeift und das Spiel beginnt.

Komisch, im Fußball wurde in den vergangenen Jahrzehnten vieles verändert, seitdem 1846 Studenten der Universität Cambridge das erste Regelwerk verfassten: Eckbälle und Freistöße gibt es seit 1866, seit 1871 dürfen Feldspieler den Ball nicht mehr mit der Hand berühren, Schiedsrichter gibt es seit 1871, die Verlängerung, wenn es nach 90 Minuten unentschieden steht, haben die Iren 1897 erfunden. Ein Jahr davor stellte man in Thüringen fest, dass es sich auf einem Fußballfeld besser spielen lässt, wenn sich auf eben diesem nur Gras befindet; die sogenannte Jenaer Regel legte fest, dass in Deutschland keine Bäume und Sträucher mehr auf dem Spielfeld sein dürfen. Die Querlatte gibt es übrigens auch erst seit 1875, davor wurde das Tor durch eine Schnur nach oben hin begrenzt.

Auch in der Zeit des telegenen Fußballspiels wurde das Regelwerk modifiziert. So wurden gelbe und rote Karten und das Elfmeterschießen eingeführt. Das war 1970 und die Regel hält sich bis heute, wohingegen das 1996 eingeführte »Golden Goal«, durch das die Mannschaft zum Sieger erklärt wurde, der in der Verlängerung das erste Tor gelang, sich nur kurze Zeit halten konnte; 2002 wurde es vom »Silver Goal« ersetzt, durch das die Mannschaft gewann, die nach Ende der ersten oder zweiten Halbzeit der Verlängerung die meisten Tore erzielt hatte. Auch diese Regel hielt sich nur kurze Zeit und wurde bereits 2004 wieder abgeschafft.

Klingt kompliziert, ist es aber nicht, wie auf der Webseite des Kreisligisten SV Grün-Weiß Weidenhahn (www.sv-weidenhahn.de) nachzulesen ist. Die Webseite informiert uns auch darüber, dass seit 1993 die sogenannte Blutgrätsche strengstens verboten ist, was ein wenig merkwürdig ist, denn es gibt sie ja noch. Aber so ist das mit den Regeln, sie halten sich, wie Bertolt Brecht einst formulierte, am besten dadurch am Leben, in dem man sie gelegentlich übertritt.

Die »Golden Goal«-Regel wurde bei ihrer Einführung vor 20 Jahren damit begründet, dass man das Fußballspiel für den Zuschauer attraktiver machen wolle. Das war natürlich dummes Zeug, denn wirklich attraktiv ist ein Spiel, wenn es am Ende zum Elfmeterschießen kommt und Deutschland dabei Italien nach 46-jähriger Leidenszeit endlich bei einem großen Turnier einmal schlagen kann.

Alles ist im modernen Fußballspiel im Fluss. In der Pause des Spiels gegen Italien musste ich am Samstagabend meinem 17-jährigen Sohn erklären, was früher ein Libero war. Am Anstoß-Ritual zu Beginn der ersten und zweiten Halbzeit hat sich allerdings noch nie etwas geändert. Noch kam kein UEFA- oder FIFA-Verantwortlicher auf die Idee, aberwitzige Vorschläge zu unterbreiten. Vorstellbar wäre vieles: Man könnte zum Beispiel den Ball vom Seitenrand aus von der aktuellen Miss-World auf das Spielfeld werfen lassen oder ihn auf den Mittelpunkt legen und vom Elfmeterpunkt aus müsste je ein Spieler einer der beiden Mannschaften dorthin sprinten, und wer zuerst am Ball ist, darf gleich losstürmen. Wäre das nicht zauberhaft?

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