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»Es muss hier endlich etwas geschehen«

Ulrich Schneider vom Paritätischen über Armut in einem reichen Land

  • Lesedauer: 4 Min.

Im Wochentakt werden Studien veröffentlicht, die eine Zunahme von Armut in Deutschland konstatieren. Das Thema wird heiß diskutiert, vor allem in den Medien. Warum da jetzt noch ein Armutskongress?
Es war uns wichtig, dass wir alle Akteure zusammenholen, die das Thema bewegt. Also alle zusammenbringen, die etwas ändern wollen an dieser Situation. Dieser Kongress soll ja nicht nur Befunde wiedergeben, sondern soll vor allen Dingen der Frage nachgehen, was jetzt zu tun ist und was wir als Organisationen, als Bürgerinnen und Bürger tatsächlich machen können, um auf die Politik einzuwirken. Und darum geht es. Deswegen auch der Titel des Kongresses: »Zeit zum Handeln«.

Ist das nicht vergebliche Liebesmüh? Schließlich drängen Sozialverbände seit Jahren auf eine armutsfeste Grundsicherung für Langzeitarbeitslose oder eine Anhebung des Rentenniveaus …
Ich denke, wenn in Deutschland eine wirklich große Mehrheit von Menschen sagt, es muss hier endlich etwas geschehen, wir brauchen eine auskömmliche Reform der Alterssicherung, um Altersarmut vorzubeugen, oder eine Bildungsoffensive, die alle Kinder mitnimmt. Wenn also hier Mehrheiten entstehen in einer Gesellschaft, dann ist zumindest die Chance groß, dass in einer Demokratie die Politik darauf reagiert. Es wird auf dem Kongress auch um die Frage gehen, wie wir in einer Bürgergesellschaft helfen können, solche Mehrheiten zu erzeugen und diese sichtbar zu machen. Das sind die zentralen Aufgaben einer Bürgergesellschaft.

Welche Organisationen und Verbände, die Sie dabei unterstützen könnten, beteiligen sich denn am Kongress?
Wir freuen uns sehr, dass wir den Kongress mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund zusammen veranstalten. Das ist eine wichtige Partnerschaft - Sozialverbände, Fachverbände und DGB. Wir sind auch froh, dass die Nationale Armutskonferenz als Veranstalter mitwirkt. Es sind aber auch andere Organisationen dabei: von Pro Asyl über den Deutschen Kinderschutzbund bis zum Verband alleinerziehender Mütter und Väter. Sie alle eint der Gedanke, dass in Deutschland etwas entsetzlich schief läuft. Dass dieses Land immer reicher wird und trotzdem immer mehr Menschen auf der Strecke bleiben.

In Ihrer Aufzählung fehlen die Parteien. Drückt sich die Politik?
Wir haben uns um die Parteien gar nicht bemüht. Das ist ein Kongress der Bürgergesellschaft und deswegen haben wir keine Parteien als Veranstalter angefragt. In den Diskussionen auf dem Kongress sind aber alle im Bundestag vertretenen Parteien dabei.

Also auch die CDU?
Selbstverständlich.

Dabei werfen die Konservativen Ihrem Verband vor, die Lage im Land zu dramatisieren. Hartz IV verursache keine Armut, sondern verhindere Armut, heißt es aus der Union. Zudem stören sich viele an der Armutsschwelle, die Ihr Verband bei 60 Prozent des mittleren Einkommens zieht. Ist diese Schwelle nicht zu hoch? Schließlich beträgt das mittlere Einkommen in Deutschland mehr als 1500 Euro im Monat.
Hier kommt es natürlich auf die Familiengröße an. Wenn Sie Single sind, dann liegt dieses Einkommen je nach Miete, die man zahlen muss, noch ziemlich deutlich über der Hartz IV-Schwelle. Haben Sie aber eine Familie mit drei Kindern oder haben Sie einen alleinerziehenden Haushalt mit zwei kleineren Kindern, dann ist diese 60-Prozent-Schwelle, je nachdem, wo Sie wohnen, sehr schnell unter Hartz-IV-Niveau.

Aber der monatliche Regelsatz für einen Langzeitarbeitslosen liegt doch momentan bei 404 Euro. Diesen Wert überschreitet man doch selbst bei Niedriglohn.
Sie vergessen hier die Mietkosten, die für gewöhnlich vom Jobcenter übernommen werden. Nehmen Sie zum Beispiel Wiesbaden. In der hessischen Hauptstadt hat auch ein Single die Hartz-IV-Schwelle zu überwinden, denn die liegt wegen der hohen Mieten dort bei 900 Euro. Woanders können es 600 Euro sein. Es kommt wirklich sehr darauf an, wo man wohnt. Aber für die meisten Familien mit kleineren Kindern und für Alleinerziehende fällt die Hartz IV-Schwelle zusammen mit dieser 60-Prozent-Schwelle. Häufig liegt die Schwelle sogar noch darunter.

Über welche Größenordnungen reden wir da eigentlich?
Wenn wir alle mitzählen, sind es 12,5 Millionen Menschen, die als einkommensarm gezählt werden. Man muss allerdings ein bisschen aufpassen, denn es handelt sich um eine Stichtagsbetrachtung. Das heißt, da können auch Leute erfasst werden, die nur einen Monat mal unter diese Schwelle fallen und dann schnell wieder draußen sind. Auf der anderen Seite sagen wir aber auch, dass die Zahl wohl noch höher ist, weil Menschen, die keinen eigenen Hausstand haben, aus der Statistik fallen.

Also Obdachlose?
Nicht nur. Dazu zählen auch Behinderte im Wohnheim und ältere Menschen, die in Pflegeeinrichtungen wohnen. Ebenso wie Strafgefangene, Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie natürlich Obdachlose. Die 360 000 Wohnungslosen gehen nicht in solche Berechnungen ein. Und deswegen sagen wir: Egal ob 12 Millionen oder 13 Millionen - es gibt zu viele Arme in Deutschland.

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