Objekt trifft Subjekt

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich muss mich beeilen, denn meine Wohnung im Stadtteil Castello am Campo San Martino muss bis 20 Uhr übernommen sein, sonst zahle ich 50 Euro Abendzuschlag, nach 23 Uhr bleibe ich auf der Straße, ebenso am Sonntag. Harte Regeln, da weiß man gleich, was Sache ist. Die Wohnung gehört zu einem Feinkostladen an der Ecke, so viel ist klar, aber ans Telefon geht, obwohl ich meine Ankunft vorschriftsmäßig per Mail angekündigt habe, niemand. Zum Glück sind Leute auf der Straße, die kennen die Inhaber, man werde ihnen Bescheid sagen.

Nach einer guten halben Stunde kommt die Tochter des Hauses mit dem Schlüssel. Man merkt ihr an, dass es sie ärgert. Vielleicht hat die Familie Lose gezogen und sie hat verloren, vielleicht muss sie aber auch immer raus, wenn abends noch was Lästiges anliegt. So was wie ich?

Wie ein Bittsteller fühle ich mich eigentlich nicht, der Preis, den ich für die Wohnung gezahlt habe, ist - wie immer in Venedig - stattlich. Ich komme mir fast wie jemand vor, der Oldtimer sammelt, obwohl er sich noch nicht einmal einen Fiat 500 leisten kann. Aber immerhin, die Wohnung hat eine Terrasse, und so was ist für einen Vermieter in dieser Stadt bares Geld wert und für mich hoffentlich die Gelegenheit zu »Freiluftgedanken«, wie es Nietzsche nannte, der nicht in geschlossenen Räumen arbeiten mochte. Zu Nietzsche in Venedig komme ich noch, erst einmal muss ich noch die Kurtaxe, die die Stadt neuerdings erhebt, zahlen - nach typisch venezianischen Regeln, solchen, auf die man sich im Zweifelsfalle nicht berufen kann. Denn für die Kurtaxe gibt es einen Ermessensspielraum, jedoch beträgt sie maximal fünf Euro pro Nacht. Das ist für jene Fünf-Sterne-Hotels gedacht, wo eine einzige Übernachtung allein schon mehrere Tausend Euro kostet.

Natürlich hat mir der Feinkostladen auch volle fünf Euro, das zulässige Maximum pro Nacht, berechnet, er hätte sich auch mit zwei begnügen können. Aber wenn es um das Schröpfen von Fremden geht, sind Venezianer Patrioten. Gegenüber auf der anderen Kanalseite hängt ein Spruchband: »Residenti - Resistenti«, was wohl den widerständigen Stadtbewohner beschwört. Aber resistent, das klingt in meinen Ohren gerade wie hoffnungslos stur.

Die Tochter des Feinkosthändlers, vielleicht zwanzig, blondiert, rotlackierte Zehen-Nägel und einen feuchten Händedruck, schaut mich forschend an, aber ich weiß, verhandeln - protestieren gar - nutzt hier nichts, das ist kein Versehen, das ist die Absicht der resistenten Residenten, zu denen ich nicht gehöre. Man mag die Fremden hier nicht, aber ihr Geld nimmt man mit vollen Händen! Jedenfalls ist die Terrasse - nicht einsehbar, wie es im Maklerdeutsch heißt, weil zwischen die Dächer der angrenzenden Häuser gequetscht - auch fünf Sterne wert.

Klingt alles furchtbar profan, die Schleife laufende Litanei eines, der dennoch immer kommt. Warum eigentlich? Das müsste man Nietzsche fragen, der es in Venedig mit ähnlich banalen Dingen zu tun hatte, obwohl er hierher kam, um wichtige Dinge zu denken. Die Venezianer zelebrieren nun mal ihren Alltag, und sie bestimmen, ob gerade Lärm oder Stille geboten ist. An seinen Freund, den erfolglosen Komponisten Heinrich Köselitz (Peter Gast genannt), der hier seine Oper »Der Löwe von Venedig« komponierte (wieder ein Reinfall), schreibt Nietzsche im März 1884: »Wenn ich komme, dann suchen Sie mir bitte ein Zimmer am Canale Grande?« Sein Wunsch geht in Erfüllung. Köselitz begutachtet ein Zimmer am Rialto, findet es sauber und - wie man heute sagen würde - er bucht es für Nietzsche.

Vorsichtshalber weist er den empfindlichen Philosophen auf den Lärm in dieser Gegend hin: »Nachtruhe im deutschen Sinne gibt es nicht (Singen, Schreien, Disputieren)«. Aber immerhin die Vermieterin, Mitte dreißig, findet Köselitz »ernst und anständig«. Diese Szene gibt ein Beispiel dafür, wie Venedig die Sinne vernebelt, wie derjenige, der meint zu handeln, unweigerlich zum Objekt des Handelns wird. Denn Nietzsche ist von seiner Vorstellung, am Rialto zu wohnen, absolut entzückt, er sagt alles - und zu jedem Preis - zu. Die Ernüchterung folgt unausweichlich, wie nach einigen Tagen sein irritierter Bericht an Köselitz zeigt: »Ich glaube, ich wohne bei einer Hure!« Ja, wenn doch im Baedeker gestanden hätte, dass das Viertel am Rialto, in das es Nietzsche mit solcher Vehemenz zog, als Rotlichtviertel Venedigs galt!

Aber vielleicht hat gerade diese für einen deutschen Professor etwas peinliche Logis ihren Einfluss auf den gerade entstehenden »Zarathustra« gehabt, in den die merkwürdigen, eigentlich wenig zum distinguiert-weichlichen Nietzsche passenden Sätze hineingeraten: »Du gehst zum Weibe? Vergiss die Peitsche nicht!«

Seiner Begeisterung für Venedig hat dieser kleine Zwischenfall keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Vermutlich hat er das Geheimnis gekannt, in Venedig fremd und dennoch glücklich zu sein: einverstanden damit, gelegentlich Objekt fremden und nicht Subjekt eigenen Handelns zu werden.

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