Fassadenhaut mit Schrunden

Kiezfotografien auf den Spuren von Heinrich Zille im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Bilder gleichen sich ungeachtet politischer Differenzen. In Ost wie West sahen Berlins Altstadtviertel noch Jahrzehnte nach dem Krieg marode aus. Während man in der DDR auf Abriss und Neubau setzte, boten die Mieter im Westen solchen Gelüsten Paroli. Behutsame Stadtsanierung hieß das Ergebnis. Den Weg dahin zeichnet in der Villa Oppenheim eine Kabinettausstellung nach. Dabei sind die gezeigten 28 überwiegend Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Jahren 1976 bis 1984 beinah zufällig entstanden. Weil die Bewohner im Klausenerplatz-Kiez, gelegen unweit jener Villa an der Charlottenburger Schloßstraße, nach der Sanierung steigende Mieten befürchteten, gründeten sie bereits 1973 eine Mieterinitiative. In deren Auftrag war der studierte Elektrotechniker und Philosoph Gottfried Schenk mit seiner Kamera unterwegs, um zu fixieren, wie man dort lebte.

Brisant und bis heute interessant ist daran, dass es sich just um jenen Kiez handelt, in dem 37 Jahre Heinrich Zille gewohnt und neben seinen Zeichnungen ebenfalls in Fotografien dieses »Milljöh« dokumentiert hatte. Hausten dort zu seinen Zeiten bis zu 30 000 Menschen in gründerzeitlich errichteten engen Mietskasernen, waren es auf Schenks Tour noch rund 10 000 - unter teils unzumutbaren Verhältnissen. Wie sie beschaffen waren, davon künden eindringlich seine Bilder, alle gleichen Formats, ob in Längs- oder Querhängung, alle alugerahmt und mit weißem Passepartout.

Da sieht eine Dicke aus ihrem Fenster. Edel eingefasst ist es, mit Medaillon über seitlichen Pilastern, der Putz bröckelt erheblich. Auf einem gerümpelstrotzenden Hof zwischen Schutt und Zaunresten spielen Kinder, andere haben ein Barackendach erklettert. »Muss saniert werden« ist auf eine putzfreie Wand gepinselt, die Fassadenhaut daneben hat Schrunden wie offene Wunden. Besonders berührt ein Foto, das Zille geschossen haben könnte: Im Blick von oben beobachtet man eine Beleibte mit Lockenwicklern, Kittelschürze, Pantoffeln, wie sie ungeachtet des Zerfalls weiße Unterwäsche auf quer gespannte Leinen hängt; ein Kind huscht darunter durch. Auch traurig: Aus der Wand eines früheren Pferdestalls ragt ähnlich dem treuen Fallada der Gebrüder Grimm in ovaler Kartusche ein Pferdekopf, das Maul halb offen, die Nüstern gebläht - beides beschädigt. Vor einer Kneipe lungern mit Zweirädern und Motorrad Jungen, alle vorm Schild für Charlottenburger Pilsner: Blouson-Tristesse. In einem Schaufenster hängen an Fleischerhaken Obst und Gemüse, Zwiebeln für 2,40 Mark. Zwei Männer stehen grinsend davor - wegen der Preise? Ein Alter mit Pfeife, Schildmütze und Schlips eilt vorwärts, die Erfahrungen eines schrecklichen Krieges wohl hinter sich. Auf einem Hof zieht per Plattenwagen ein junger Mann, beobachtet von einer Mieterin mit Bommeln an den Hausschuhen, Bündelkohle herbei - ein Schatz zu dieser Zeit.

Mehrere Fotos halten Aktivitäten der Mieterinitiative fest. Clowns mit Musikinstrumenten posieren vor deren Laden; eine Frau macht auf wüstem Baugrund mit Leierkastenklang, im Mittelbild des hölzernen Körpers das Brandenburger Tor, auf ihr Anliegen aufmerksam; eine andere Frau steht siegesgewiss als Plastik auf einer Plinthe: mit zur Faust geballten Hand. »Wir bleiben hier«, verkündet ein Plakat neben ihr. Radikaler geht es auf weiteren Bildern zu. Eine Halbwüchsige mit Ohrring und Bürstenschnitt ist Hausbesetzerin mit ängstlichem Blick; ein besetztes Haus ziert ein Regenbogen quer über die Fassade, mit Wölkchen, aus denen Regen tropft. »Lieber Instandbesetzen als Kaputtbesitzen«, verkündet ein Wimpel. Und »Kommunistische Arbeitsscheuenzentrale« prangt trotzig groß an einem nächsten Besetzerhaus. Eine politische Dimension kommt ins Spiel, auch an Litfaßsäulen, die gegen eine »reaktionäre CDU-Mehrheit« agitieren, Händel und Horvath offerieren, einen Vortrag über »Die Parteien und die Homosexuellen« bewerben, allerdings auch lasziv eine Peepshow. Das gemütliche Volksfest mit Zauberer, noch unaufgedonnert; der heruntergekommene einstige Prachtbalkon mit Voluten, Lyra schlagender Kore und gemalten Greifen; der auf der Straße wartende Umzugsmieter im Kreis seines Hausrats; das spannende Radrennen schon in Farbe - weitere beredte Facetten einer Ära mit Nachwirkung bis ins Heute: siehe Rigaer Straße.

Bis 8.1., Museum Charlottenburg-Wilmersdorf, Schloßstr. 55, www.villa-oppenheim-berlin.de

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