Mit Schwein und Schweinesprung zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal

Gran Canaria: Mountainbiken als Kontrastprogramm zum Übernachtungsbeton an den Küsten

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.
Nein, eine Schotterpiste kann man das eigentlich nicht nennen, die wir da im Süden von Gran Canaria gerade runter schlingern. Eher erinnert das alles an einen Ritt auf einer Gesteinslawine. Oben auf dem Berg hatte uns Robby beim Justieren der Mountainbikes irgendwas von Schwierigkeitsgrad zwei erzählt. Und dass das hier ohnehin alles andere als eine extreme Downhill-Veranstaltung wäre. Bestenfalls ein Schnupperkurs für leidlich Fortgeschrittene.
Darüber, was Fortschritt ist, lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Danach steht uns jetzt jedoch der Sinn nicht. Wir sind auf diesen knapp zwei Kilometern höllenabwärts mit Wichtigerem beschäftigt, um nicht zu sagen mit Existenziellem: Hintern aus dem Sattel eines Gefährts, das unmotiviert wie ein Mustang bockend und springend talwärts rast, in den Pedalen stehend, die möglichst eine waagerechte Linie bilden sollen, Knie und Arme leicht angewinkelt, dabei in Hüfte und Nacken gefälligst locker bleiben, die Hände mit den schmerzenden Gelenken (nicht verkrampfen!) fest an Lenker, Schaltung und Bremse, gewarnt, auf keinen Fall direkt auf einem Stein zu bremsen. Dazu links eine Felswand mit rausspringenden Zacken, die man - Gott sei Dank! - ebenso nur schemenhaft wahrnimmt wie rechts den ein Meter entfernten Abgrund.
Robby: »Also, hier runter und da drüben rauf. Alles klar?«
Wie der Esel beim Eistanz
Nun demonstriert Robby (24) vorn gerade das, wovor er uns (zwei Mal Anfang 40, ein Mal 60) angesichts unseres kläglichen Fortgeschrittenenniveaus dringend abgeraten hatte. Er umfährt eine fußballgroße Klamotte nicht, sondern macht in voller Fahrt einen Satz drüber. Wir umkurven das Ding dann irgendwie. Er also mit dem legendären Schweinesprung, wir mit viel Schwein. Nach Sperenzchen steht uns der Sinn ohnehin längst nicht mehr, und wir sind froh, als Robby an einem kleinen Plateau, das sich rechts auftut, endlich hält. Rast und einzige Chance für Fotos. Hunger und Durst sind mir vergangen. Wie ich mich da aus dem Sattel fallen lassen, kommt mir das Wort vom Esel in den Sinn, der aufs Eis tanzen geht, wenn's ihm zu wohl ist.
Das hat aber lediglich mit meiner Verfassung, nichts mit der Jahreszeit zu tun. Denn wenn es zwischen Oktober und März auf dem europäischen Festland, ja sogar auch auf den Balearen um Mallorca und Ibiza ungemütlich wird, rückt die spezielle Urlaubsstunde der Kanaren ran. Hier im Atlantik, 1200 Kilometer weg von der spanischen Heimat, in diesem Sieben-Insel-Archipel, nur 200 Kilometer westlich der afrikanischen Küste, hinter der gleich die Sahara beginnt, hat der Winter so gut wie nie Saison.
Für unseren Bike-Guide schlägt besagte Urlaubsstunde inzwischen sogar das ganze Jahr über. Er ist bei Free Motion angestellt, der Bike- und Wanderagentur von Michael Pivovaroff (41) und seiner Freundin Sandra Mäser (40). Robby, den lustigen wie klugen Typ, der aus Augburg stammt, kann man in Playa del Inglés, also im Süden Gran Canarias, gleich neben der Stadt Maspalomas, für Rad- und Mountainbiketouren buchen. »Für mich ist mit diesem Job ein Traum in Erfüllung gegangen«, sagt er. »Mein Sport, also mein Hobby, wurde mein Beruf. Manchmal fasse ich es immer noch nicht.«
Robby war zu Hause nach der Lehre als Polsterer und Tapezierer arbeitslos, schlug sich dann als Möbelverkäufer durch, bis er - seit Jahren passionierter Radrenner und Mountainbiker - zufällig auf die Stellenanzeige von Free Motion stieß. Als er den Zuschlag bekam, verkaufte er sein Auto und legte sich für knapp 9000 Euro ein neues Rad zu. »Ich mag die Natur hier, die Mentalität der Leute«, schwärmt er. Und er liebt vor allem seine Freundin, mit der er in ein Haus am Ortsrand gezogen ist, wo eben diese Natur beginnt, von der und für die Robby lebt. Mut ist Mangel an Überlegung Momentan lebt er dabei auf, uns mal so richtig herauszufordern. Zwar alles wohl kalkuliert (Unfälle mit Gästen wären ein Horror für den Guide und die Firma) und offenbar noch im grünen Bereich, aber doch schon arg gefährlich aussehend. Wir stehen an der oberen Kante einer annähernd drei Meter hohen, fast 45 Grad geneigten kahlen Felsenrampe, die hier den kargen Pfad abrupt unterbricht. Robby lässt uns über die ideale Fahrlinie rätseln, korrigiert und meint dann, wer es sich zutraut, der soll los. Je näher die Kante kommt, desto panischer wird's. Alle drei versuchen wir's zwei, drei Mal. Letztlich trauen sich die beiden Jüngeren tatsächlich in die zwar kurze aber höchst adrenalinträchtige Schussfahrt. Der Ältere denkt an seine nahe Rente, knurrt etwas vor sich hin, das wie »Mut ist Mangel an Überlegung« klingt und fährt den anderen auf dem gemäßigteren Umweg hinterher. Flucht aus Bettenburgen Natürlich ist Gran Canaria von den Touristikern vor allem für den Badeurlaub projektiert. Doch was da besonders im Südwesten neuerlich an Übernachtungsbeton in die Felsenküste gekippt wird, lässt zunehmend nicht nur passionierte Wanderer und Radler ins naturgeschützte Inselinnere ausweichen. So ist hier im Kleinen gut nachzuvollziehen, warum die Bettenburg-Pauschalreise auch im Großen - siehe jüngste Gewinnverluste und Entlassungen bei der TUI - immer tiefer in die Krise schlittert. Dieser Trend ist Robby, obwohl er da geschäftlich mit sich noch etwas uneins ist, zumindest persönlich mehr als angenehm. Er fühlt sich, wie er sagt, in der Natur nicht nur frei, sondern stärker als irgendwo auch bei sich selbst.
Ein kluges Guidewort und auch nicht schlecht fürs tägliche psychologische Geschäft, in dem es darum geht, »Leuten Vertrauen zu sich selbst einzuflößen, um sie bis an Grenzen zu bringen und gleichzeitig ihre Grenzen erkennen zu lassen«. So jedenfalls bringt es der junge Mann sehr hübsch auf den Punkt.
Nach einem sich immer länger hinziehenden, knochenharten Anstieg ist wieder Pause. Robby zeigt uns, wie man, ohne sich die Fingerkuppen zu zersticheln, wilde Kaktusfeigen erntet. Wir schmatzen sie nach unserer Tortur durch diese elysischen Gefilde wie Ambrosia. Robby meint, dass sie besonders gut nach dem Kiffen schmecken. Okay, man muss aber selbst beim zweiten Mountainbikeurlaub auf Grand Canaria noch nicht alles ausprobieren. Muskelkater statt Kater tut es schließlich auch.

Free Motion, Sandy Beach Hotel, E-35100 Playa del Ingéles, Gran Canaria, Tel. (0034) 928 777 479, info@free-motion.net, www.free-motion.net.
Gran Canaria, Patronato de Turismo, León y Castillo 17, E-35003 Las Palmas, Gran Canaria, Tel. (0034) 928 219 600, www.grancanaria.com
Alle Reisebüros mit Neckermann-Angebot, www.neckermann-reisen.de

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.