Das Leben ist ein Zebrafell
Rubelverfall, steigende Preise und höhere Tarife - aber gejammert wird nicht
Strahlend breitet Anna ihre Schätze aus: Ein gelb-hellblau gemustertes Rüschenkleid, ein Ranzen, Malstifte und jede Menge Süßes. »Das haben Onkel Viktor und Tante Swetlana mir zur Einschulung geschickt«, sagt die Siebenjährige. »Aus Deutschland.« Annas Mutter fügt hinzu, Käse und Wurst seien auch in dem Paket gewesen. »Nicht, dass wir hungern, aber wie Emmentaler schmeckt, hatten wir fast schon vergessen«. Jelisaweta Sewastjanowa spielt auf den Einfuhrstopp für europäische Lebensmittel an, mit dem sich Russland für westliche Sanktionen wegen der Ukraine-Krise rächt. »Nächstes Jahr«, sagt Anna, »kriege ich sogar eine Schultüte, die war zu groß für das Paket.« Schultüten sind in Russland nicht üblich. Anna will trotzdem eine und sie möglichst auch selbst aussuchen. »Mamotschka, als nächstes fahren wir ganz bestimmt nach Berlin, nicht wahr?«
Reise und Schultütenkauf, sagt ihre Mutter, standen schon im Juli auf dem Programm. Doch dann entschieden sie sich für Urlaub auf dem Dorf in der südrussischen Region Krasnodar. Dort wohnen die Eltern von Juri Sewastjanow, Annas Vater. Von dem, was er als Lehrer für Sport und Geografie und seine Ehefrau, als Bankkauffrau am Monatsende nach Haus bringen, bleibt für »Sonderausgaben« nichts mehr übrig, seit vor zwei Jahren die Krise zuschlug. »Wir müssen die Kredite für das Auto und die Eigentumswohnung abzahlen.« Jelisaweta seufzt. Natürlich habe sie den günstigsten Tarif ergattert und natürlich auf einem Darlehen in Rubel und nicht in Devisen bestanden. »Sonst könnten wir womöglich unsere Siebensachen packen und die Wohnungsschlüssel bei meiner Bank abgeben.« Der Rubel hat gegenüber dem Euro inzwischen mehr als 40 Prozent an Wert verloren, gegenüber dem Dollar sogar 50. Entsprechend verteuert sich auch die Reise nach Berlin zu Bruder und Schwägerin.
»Sie wollten uns sogar die Fahrt bezahlen«, sagt Jelisaweta. »Das haben wir natürlich abgelehnt. Bürger einer Großmacht als Almosenempfänger!« Ist das nun ernst oder ironisch gemeint? Anna reißt das Gespräch an sich, bevor die Mutter antworten kann: »Mama, wie fahren nach Berlin, oder?« Jelisaweta bestätigt: »Wir fahren.« Das Leben sei wie ein Zebrafell. Auf einen schwarzen Streifen folge immer ein weißer. Jetzt habe man einen besonders dicken schwarzen Streifen erwischt. »Aber auch der ist irgendwann vorbei.«
»Schwarze Streifen« - Sprechstundenhilfe Galina dehnt die Silben. »Posmotrim«, wir werden sehen. Ein schwarzer Tag sei der heutige allemal. Eben hat die Chefin sie wegen einer Lappalie angeraunzt. »Offenbar liegen die Nerven blank. Dabei kommt sie gerade aus dem Urlaub.« Nelly Agejenko zieht die Augenbrauchen hoch. »Urlaub? Hatte ich das letzte Mal vor drei Jahren.« Die vier schönsten Wochen des Jahres habe sie als Vertretung in einer anderen Zahnklinik verbracht. »Strom, Telefon, Wohnnebenkosten, überall steigen die Preise. Nur mein Gehalt steigt nicht.« Die Ärztin ist alleinerziehende Mutter. Seit 23 Jahren. »Jegor ist erwachsen und kostet immer noch Geld.« Sie seufzt.
Für Jegor war immer nur das Beste gut genug. Er ging auf ein humanistisches Privatgymnasium, dann zur Armee. Jetzt studiert er Jura an der Moskauer Privatuniversität. Was Frau Doktor pro Semester an Studiengebühren aufwenden muss, will sie nicht sagen. Nur dass es happig sei. Wie alle gesunden jungen Männer habe Jegor einen gesunden Appetit, brauche ständig neue Klamotten und Geld. Vor der Krise sei sie locker über die Runden gekommen, habe jede Menge Privatpatienten gehabt. Die waren bereit, ein kleines Vermögen für ein Hollywood-Lächeln hinzublättern. Das sei vorbei.
Nur zwei Erklärungen findet die Zahnärztin dafür: »Entweder haben die Leute jetzt bessere Zähne, was ich mir nicht vorstellen kann, oder sie müssen eisern sparen.« Um ihre eigene Einkommenslücke zu schließen, hat die Ärztin zu ihrer eigentlichen Planstelle noch eine halbe zusätzlich übernommen und kommt auf eine 60-Stunden-Woche. »Bereitschaftsdienste am Wochenende sind da nicht inbegriffen.« Noch sei nicht abzusehen, wann Jegor eigenes Geld verdiene und wieviel. »Juristen werden zwar immer gebraucht, aber die Wirtschaft, in der am besten gezahlt wird, muss selbst sparen. Sie stellt weniger Hochqualifizierte ein, während unsere Universitäten immer mehr davon auf den Markt werfen. Wer doch noch einen Job bekommt, wird deutlich schlechter bezahlt.«
Es gibt in Russland Tausende alleinerziehende Mütter mit studierenden und daher teuren Kindern ohne klare Perspektive. Wie kommt es, dass Wladimir Putin, der als Präsident für alles und damit auch für die Krise und für sinkenden Wohlstand verantwortlich ist, noch immer Zustimmungsraten von über 80 Prozent einfährt? Von Politik verstehe sie nichts, sagt Frau Doktor und klappert mit den Instrumenten. »Bitte den Mund jetzt ganz weit öffnen.«
Das Gespräch mit Nina Krutowa, die an der Kasse eines Supermarktes sitzt, endet ähnlich abrupt. Kino? Gestrichen. Neue Winterstiefel? Erst einmal nicht. Ihr Gehalt reiche gerade zum Überleben. Das auch nur, weil der Supermarkt an Mitarbeiter Produkte mit überschrittenem Verfallsdatum zu deutlich gesenkten Preisen abgibt. Aber sie wolle nicht jammern. »Meine Großmutter hat im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach gehungert und nie geklagt. Augen zu und durch, hieß es. Der Nächste bitte.«
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